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Wahlen in der Türkei Gefährden soziale Medien die Wiederwahl Erdogans?

Präsident Erdogan kontrolliert fast alle türkischen Medien. Das ist ein wichtiger Vorteil für die Wahlen. Doch es gibt Ausweichmöglichkeiten, und die sind besonders für die Opposition wichtig.

Der türkische Präsident Erdogan kontrolliert fast alle Massenmedien in der Türkei. Er und seine Partei kommen in der Berichterstattung über die bevorstehenden Wahlen häufiger vor und auch viel besser weg. Doch es gibt Alternativen im Netz.

Das ist ein Weg, sich Gehör zu verschaffen. Es sind alternative Stimmen, die auf den Hauptmedienkanälen nicht mehr vorkommen, weil jene unter staatlicher Kontrolle sind.
Autor: Gülistan Gürbey Freie Universität Berlin

Mehrere Dutzend Kanäle auf Youtube machen Meinungsumfragen zu den Wahlen bei Passanten; ihre Videos haben Millionen von Klicks. Dass diese Videos durch die Decke gehen, habe damit zu tun, dass nicht alle Stimmen in den türkischen Medien erhört würden, sagt Nahost- und Türkei-Professorin Gülistan Gürbey von der Freien Universität Berlin.

«Das ist ein Weg, sich Gehör zu verschaffen. Es sind alternative Stimmen, die auf den Hauptmedienkanälen nicht mehr vorkommen, weil jene unter staatlicher Kontrolle sind.» Laut Schätzungen befinden sich um die 90 Prozent der konventionellen Medien wie auch Tageszeitungen im Besitz von Unternehmen, die der Regierungspartei von Erdogan freundlich gesinnt sind.

Älterer Mann mit Brille auf einer Wahlbphne winkt und spricht ins Mikrofon.
Legende: Die Opposition unter Kemal Kılıçdaroglu sucht händeringend nach Alternativen, um sich Gehör zu schaffen – und findet sie im Internet. Keystone/Sedat Suna (EPA)

Ali Sonay forscht an der Universität Bern unter anderem zu den Medien in der Türkei. Die alternativen Kanäle hätten einen bedeutenden Einfluss auf die Meinungsbildung: «Kritik kann nur noch dort geäussert werden.»

Kritik an Wirtschaft und Politik

Zuletzt ging ein Video viral, in dem sich eine 19-jährige Passantin in der südtürkischen Stadt Antalya lautstark über die immer schwächer werdende Kaufkraft beschwert.

Passant:innen
Legende: Die Passantin macht ihrem Ärger freien Lauf: «Mein Ehemann verdient 5500 türkische Lira (ca. 250 Franken) und ich sage euch: Du kriegst in dieser Stadt keine Wohnung unter 10'500 oder 13'000 Lira (ca. 480 und 600 Franken).» Screenshot: Youtube/Sade Vatandaş

Solche Stimmen treffen offenbar einen Nerv, und die Oppositionsparteien haben die Wichtigkeit dieser Medien erkannt. Zu den beliebten Formaten zählt seit einigen Monaten eine Sendung auf dem Youtube-Kanal «Babala TV». Muharrem Ince ist einer der Kandidaten, die gegen Erdogan zur Präsidentschaftswahl antreten. Kürzlich sagte er: «Diese Youtube-Sendung hier scheint viel mehr Leute zu erreichen als das türkische Fernsehen.»

Älterer Mann (Ince)  auf einer Bühne, hinten sitzt ein jüngerer Mann (Moderator Oguzhan) an einem Tisch.
Legende: «Dinge, die ich vielleicht schon fünfzig Mal im Fernsehen erzählt habe, musste ich hier auf ‹Babala-TV› nur einmal sagen. Danach erreichten mich tausende von Nachrichten. Einen solchen Rücklauf hatte ich nach Fernsehenauftritten nicht», so Muharrem Ince. Screenshot: Youtube/Babala Tv

Damit meint Ince die Open-Mic-Sendung mit dem Titel «Mevzular, Açık Mikrofon», in der er bereits zweimal Gast war. Übersetzt heisst das so viel wie «Themen und offenes Mikrofon».

Erdogan beachtet Alternativen kaum

Das politische Spektrum der Gäste ist breit: von links bis konservativ und religiös. Nur die Regierungspartei ziert sich. Erst einmal schickte die AKP von Erdogan einen Vertreter in die Sendung. Dabei lädt der Youtuber Oguzhan Ugur auch die AKP immer wieder in seine Sendung ein.

Laut Gürbey spielen solche Formate auch eine Rolle, wenn es darum geht, eine bestimmte Wahlklientel zu erreichen – besonders Jüngere. Unter ihnen sind auch viele, welche zum ersten Mal wählen dürfen. Sie könnten am Wahlsonntag das Zünglein an der Waage sein, sagt Sonay: «Es gibt zwischen fünf und sechs Millionen Erstwählerinnen und Erstwähler.»

Wie gefährlich ist Youtube für Erdogan?

Die digitalen Formate würden nicht alle in der Türkei gleich erreichen, sagt Gürbey. «Das sind beispielsweise Menschen, die keinen Zugang zum digitalen Raum haben. Sie gibt es in der Türkei natürlich genauso», so Gürbey. Zudem würden die Medien alleine nicht den Ausschlag geben, wie diese Schicksalswahlen in der Türkei ausgehen und ob Präsident Erdogan wiedergewählt wird, sagt Ali Sonay von der Universität Bern.

«Es gibt andere Faktoren wie die wirtschaftliche Entwicklung, die Art und Weise, wie Wahlkampfreden gehalten werden», sagt Sonay. Das bedeute aber nicht, dass die Medien nicht einer der zentralen Faktoren sind.

Heute Morgen, 08.05.2023, 06:39 Uhr

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