Iran hat das Parlament und den Expertenrat gewählt. Die Wahllokale haben um Mitternacht Ortszeit (21.30 Uhr MEZ) geschlossen. Mit ersten Ergebnissen wird an diesem Wochenende gerechnet. Es handelt sich um die ersten Wahlen seit den Massenprotesten nach dem Tod der jungen Studentin Mahsa Amini. Freie Wahlen waren es nicht, denn unzählige Kandidaten durften nicht antreten. Darum wird eine tiefe Wahlbeteiligung erwartet. Das heisse aber nicht, dass die Gesellschaft entpolitisiert sei, sagt die Politologin Azadeh Zamirirad im «Tagesgespräch».
SRF News: Sind die Wahlen, die in Iran abgehalten werden, Scheinwahlen?
Azadeh Zamirirad: Es sind sicher keine Wahlen, die in irgendeiner Form demokratischen Standards entsprechen. Es sind weder freie oder kompetitive Wahlen, noch gibt es eine unabhängige Wahlkommission, die sicherstellen könnte, dass es nicht zu Wahlmanipulationen kommt. Auch die Grenzen wurden sehr eng abgesteckt, denn viele sogenannte pragmatische Reformkräfte wurden von den Wahlen ausgeschlossen.
Man kann schon von Scheinwahlen sprechen.
Es ist also klar, dass die Wahlen auf eine politische Gruppierung zugeschnitten sind: auf die sogenannten Hardliner. Insofern kann man schon von Scheinwahlen sprechen. Dies zeigt auch, dass die iranische Führung sich in einer kritischen Übergangsphase befindet. Es geht bald darum, eine neue Spitze dieses Herrschaftsapparates zu bestimmen: den Nachfolger des geistlichen Oberhaupts Ali Chamenei. Dieser wird formal vom Expertenrat bestimmt, der ebenfalls heute gewählt wird. Die politische Führung des Iran will keine Risiken eingehen.
Die Wahlen in Iran sind die ersten seit den Protesten nach dem Tod von Mahsa Amini. Die junge Frau war in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen. Muss man bei einer tiefen Wahlbeteiligung sagen, die Bevölkerung Irans sei entpolitisiert?
Nein. Viele wenden sich bloss von den formalen Kanälen ab, nicht aber von der Politik. Die Erkenntnis, die aus den letzten Jahren hervorgegangen ist, ist die, dass ein gesellschaftspolitischer Wandel nur noch auf der Strasse denkbar ist. Hier sind weite Teile der Gesellschaft immer noch im Widerstand aktiv. Er ist schlicht nicht mehr in dieser Form sichtbar, weil wir durch die massive Repression nicht mehr die Massen auf den Strassen sehen. Aber das Widerstandspotenzial ist da und das Interesse an einem gesellschaftspolitischen Wandel ist ungebrochen.
Weite Teile der Gesellschaft sind immer noch im Widerstand aktiv.
Ist die Zivilgesellschaft heute organisierter als vor den Protesten?
In den letzten Jahren ist in Iran tatsächlich eine Protestinfrastruktur entstanden. Und damit meine ich zum einen Kommunikationskanäle informeller Art, aber auch andere Infrastrukturen. Zum Beispiel ein Netzwerk von Ärzten und Ärztinnen, die Nothilfe leisten, wenn Protestierende verletzt werden. Es bestehen Kapazitäten, von denen ich ausgehe, dass sie leichter wieder aktiviert werden könnten.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.