Wegen der Corona-Krise herrscht in Indien eine Ausgangssperre. Diese wird von den 1.3 Milliarden Inderinnen und Indern eigentlich gut eingehalten. Die Millionen Wanderarbeiter können aber schlecht zu Hause bleiben. Sie arbeiten nur in den grossen Städten, leben aber fernab in ländlichen Gebieten.
Nun haben sie keine Arbeit mehr. Weil keine Züge mehr fahren, machen sich viele nun zu Fuss auf den Heimweg. Dabei macht ihnen der Hunger grössere Sorgen als das Coronavirus, schildert Südasien-Korrespondent Thomas Gutersohn.
SRF News: Was sind das für Menschen, die sich nun auf den langen Heimweg machen?
Thomas Gutersohn: Es sind Eltern, die ihre Kinder auf den Schultern tragen; ältere Leute, die ihre Habseligkeiten in einem Bündel auf den Rücken gepackt haben; und es sind viele junge Männer und Frauen, die gar nichts tragen, weil sie schlicht und einfach nichts besitzen.
Die Löhne der Wanderarbeiter sind so niedrig, dass es am Abend für eine Mahlzeit reicht.
Sie gehen nun mehrere hundert Kilometer auf den grossen Autobahnen zu Fuss aus den Städten wie Neu-Delhi, Kalkutta und Lakhnau zurück in ihre Heimatdörfer. Weil die Menschen aus so vielen Städten fliehen, ist es schwierig, eine Zahl zu nennen. Aber die Bilder sprechen für sich: Die Autobahnstreifen sind voll.
Das heisst: Essen, Trinken und medizinische Versorgung fehlen?
Ja. Ab und zu kommen Hilfswerke vorbei, die ihnen einen Teller Reis geben, aber ansonsten sind sie auf sich alleine gestellt. Sie haben ihre Rückreise ja aus Hunger angetreten. Die Städte sind schlicht zu teuer für sie. Etwas zu essen gibt es nur, wenn sie arbeiten – ihre Löhne sind so niedrig, dass es am Abend für eine Mahlzeit reicht. Und die Ersparnisse sind nach den ersten Tagen der Ausgangssperre aufgebraucht. Auf dem Land haben sie ihre Eltern oder Grosseltern, die vielleicht einen Bauernbetrieb haben und zu ihnen schauen können.
Konnte man so etwas nicht voraussehen?
Doch. In Mumbai wurde das öffentliche Leben heruntergefahren, noch bevor die landesweite Ausgangssperre verhängt wurde. Vor einer Woche haben Tausende Wanderarbeiter fluchtartig die Stadt verlassen und sich in die letzten Züge nach Bihar und Uttar Pradesh gezwängt. Diese Menschenströme sind ein politisch geschaffenes Problem: Sie sind nicht primär eine Folge des Coronavirus, sondern der Massnahmen der Regierung, um dieses einzudämmen. Die Ausgangssperre kam praktisch zeitgleich mit der kompletten Einstellung der Zug- und Busverbindungen.
Hunderte Menschen sind nun sehr nah miteinander unterwegs. Da steigt doch die Ansteckungsgefahr drastisch?
Das ist das Absurde dran. Die Massnahme, dass die Leute drin bleiben sollen, hat Zehntausende, Hunderttausende Menschen auf die Strasse getrieben. Sie verbreiten nun das Virus auf dem Land, wo die Spitäler viel schlechter ausgestattet sind als in den Städten.
In ganz Indien wurden bisher nur etwa 35'000 Menschen auf das Coronavirus getestet.
Zahlen dazu gibt es nicht, weil schwer abzuschätzen ist, wie viele Menschen auf dem Weg sind. Im Moment bringt es auch nicht viel, die landesweiten Fälle zu zählen, denn in ganz Indien wurden bisher nur etwa 35'000 Menschen getestet. Die Schweiz testet im Vergleich rund 8000 Menschen pro Tag.
Was wird unternommen, um diesen Menschen zu helfen?
Es wurde ein Fonds von 20 Milliarden Dollar eingerichtet, um den Ärmsten zu helfen. Die Frage ist, wie man diese Menschen erreicht, die irgendwo zwischen Delhi und ihrem Heimatdorf sind.
Premierminister Narendra Modi hat sich öffentlich bei den armen Menschen für die Massnahmen entschuldigt. Aber Busse oder Züge hat er nicht zur Verfügung gestellt.
Das Gespräch führte Claudia Weber.