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Wenn Fakten egal sind 2022 war ein desaströses Jahr für die Medienfreiheit

  • 2022 war ein desaströses Jahr für die Medienfreiheit: Fortschritte gibt es praktisch nirgends, dramatische Rückschritte hingegen in Dutzenden von Ländern.
  • Das International Press Institute IPI brachte zwei legendäre Journalisten zusammen, die unter äusserst schwierigen Umständen Grosses leisten: die Philippinin Maria Ressa und den Russen Dmitry Muratov.
  • Die beiden Journalisten gewannen 2021 den Friedensnobelpreis.
  • Dmitry Muratov kann viele Geschichten erzählen. Traurige. Empörende. Sieben Journalistinnen und Journalisten der von ihm gegründeten Zeitung «Novaya Gazeta» wurden wegen ihrer Recherchen ermordet. Weitaus mehr werden von den russischen Behörden schikaniert, ja bedroht. Die «Novaya Gazeta» musste ihre Redaktion ins Exil verlegen, nach Lettland.

    Die Webseite ist in Russland gesperrt. Dennoch betont Muratov: «Es geht mir nicht bloss um diese eine Zeitung. Die Tragödie besteht vielmehr darin, dass ein regelrechter Genozid an den russischen Medien stattfand.» Die Folge: «Die Bevölkerung wird kaum noch mit Informationen versorgt, sondern nur noch mit Propaganda.»

Dmitry  Muratov
Legende: Dmitry Muratov ist ein russischer Journalist und Chefredakteur der Novaya Gazeta. Im Jahr 2021 wurde ihm der Friedensnobelpreis zuerkannt. Keystone/EPA/Jason Szenes

    Zeitungen, Radio- und Fernsehsender wurden geschlossen, ausserdem 138'000 Webseiten. Die wenigen verbleibenden unabhängigen Medien wurden aus dem Land gedrängt. Die grossen sozialen Medien befänden sich de facto in Staatsbesitz.

    Kein Wunder, dass trotz russischer Niederlagen, trotz der vielen Todesopfer und des wirtschaftlichen Niedergangs keine wirkungsvolle Anti-Kriegsbewegung entsteht. Muratovs Landsleute leben in einer Welt der Illusionen. An das Schlimmstmögliche wollen sie nicht glauben. Lieber einfach mal fatalistisch zusehen, wie sich die Dinge entwickeln.

Die wachsende Realitätsferne von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern irritiert auch Maria Ressa. Sie spricht von «seltsamen Zeiten in meinem Land». Diktator Rodrigo Duterte trat zwar ab. Doch zu seinem Nachfolger gewählt wurde ausgerechnet ein Diktatorensohn, Ferdinand Marcos Junior. «Das ist nur möglich in einer Gesellschaft, die von Lügen und Propaganda beherrscht wird», ist die 59-Jährige überzeugt. 

Maria Ressa, die Gründerin und Chefin der philippinischen Nachrichtenplattform «Rappler».
Legende: Ressa ist die Gründerin und Chefin der philippinischen Nachrichtenplattform «Rappler». Keystone/AP/Aaron Favila

Natürlich sei schon immer gelogen worden, auch von Regierungen. Doch mittlerweile fehle das Korrektiv dazu, weil die freien Medien immer weniger Gehör fänden. «Medienhäuser haben die Kontrolle über ihr eigenes Geschäft, die Informationsvermittlung, verloren.

Und zwar an die Internetkonzerne, denen journalistische Prinzipien egal sind und für die einzig das Geschäft zählt.» Verbreitet werde, was Aufmerksamkeit schaffe, Klickzahlen und damit Werbeeinnahmen. Es sei nun mal so, dass sich Lügen besser verkauften als Fakten.

Leben in verschiedenen Welten

Daher fördern die Algorithmen der Techkonzerne Lügen und extreme Inhalte. Und radikalisieren so die Menschen. Das Resultat: Es gibt heute nicht mehr bloss verschiedene Sichtweisen zu denselben Sachverhalten, vielmehr teilen Bürgerinnen und Bürger gar nicht mehr dieselbe Realität. Sie leben in verschiedenen Welten.

Mann in Teheran liest Zeitung, die über den Tod von Mahsa Amini berichtet.
Legende: Bedrohte Medienlandschaft: In autoritären Regimen werden die freien Medien gegängelt, im Netz fördern Techkonzerne fragwürdige Inhalte. Keystone/EPA/Abedin Taherkenareh

Weder Maria Ressa noch Dmitry Muratov behaupten, einen Ausweg zu kennen. Das Einzige, was man als Journalist, als Journalistin tun könne, sei unverdrossen und seriös weiter seine Arbeit zu verrichten. Oder, wie Ressa ergänzt: «Journalismus ist kein Verbrechen.»

Doch in immer mehr Ländern werden journalistische Recherchen genau als das gesehen. Und erbittert bekämpft. Und sie werden – ebenso folgenschwer – von all jenen Menschen, die sich eine weitgehend faktenfreie Welt zurechtgezimmert haben, schlicht ignoriert.

Weltweit 66 Medienschaffende ums Leben gekommen

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Zwei Medienschaffende mit dem Rücken zur Kamera tragen eine Splitterschutzweste mit der Aufschrift «Press».
Legende: Medienschaffende in Kriegsgebieten – wie hier in Kiew – riskieren oft ihr Leben. (Bild vom 23. März 2022) REUTERS/Serhii Nuzhnenko

In diesem Jahr sind nach Angaben des Internationalen Presse-Instituts (IPI) weltweit 66 Medienvertreterinnen und -vertreter wegen ihres Berufs ums Leben gekommen. 2021 waren es 45 Todesfälle, wie das Institut in Wien mitteilte.

Der Anstieg gehe auf eine Spirale der Gewalt in Mexiko und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zurück, berichtete das Institut weiter. In Mexiko kamen 14 Journalistinnen und Journalisten ums Leben, bei der Berichterstattung über Russlands Krieg gegen die Ukraine acht.

«Mexiko bleibt das gefährlichste Land für Journalisten», berichtete das Institut. Insgesamt waren unter den 66 Toten acht Frauen. Mindestens 39 Medienschaffende seien gezielt getötet worden, etwa, weil sie über Korruption oder die organisierte Kriminalität in ihren Ländern berichteten. Andere seien bei der Ausübung ihrer Arbeit umgekommen.

Journalisten in Konfliktgebieten gezielt anzugreifen, ist nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen. Neben Mexiko und der Ukraine war die Lage für Journalisten auch besonders gefährlich in Haiti und auf den Philippinen.

Rendez-vous, 30.12.2022, 12:30 Uhr

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