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Westliche Militärallianz Die Nato repariert sich selber

In der Strategie von 2010 galt Russland noch als strategischer Partner. Was schon damals mehr der Hoffnung entsprang, als der Wirklichkeit entsprach. China kam gar nicht vor. Auf ihrem Gipfel bezeichnet die Militärallianz nun Russland als Hauptbedrohung und China als «systemische Herausforderung».

In erster Linie wollten die dreissig Nato-Staaten auf ihrem Spitzentreffen ein neues Kapitel aufschlagen. Dies, nachdem das mächtigste Militärbündnis der Welt unter US-Präsident Donald Trump schwer Schaden genommen hatte.

Nachfolger Joe Biden steht wieder voll und ganz hinter der Nato. Er sieht sie als zentrales Element amerikanischer Allianzpolitik. Übrigens nicht nur im transatlantischen Raum. Italiens Ministerpräsident Mario Draghi sprach von einer «Reparatur der Nato». Soviel Eintracht herrschte schon länger nicht mehr. Doch unter der Oberfläche sind längst nicht alle Probleme ausgeräumt.

China rückt mit seinem Machtanspruch näher

Das betrifft nicht zuletzt die Haltung der transatlantischen Allianz gegenüber China. Bisher war die asiatische Grossmacht für die Nato kein Thema. Zu weit weg. Geographische Berührungspunkte fehlten.

Doch mit seinen Interkontinentalraketen, mit atomarer Aufrüstung, mit der Möglichkeit weltumspannender Cyberangriffe und dem Ausbau seiner Hochseekriegsflotte ist China deutlich näher gerückt. Ebenso mit seinem weltweiten Machtanspruch.

Prinzip der Abschreckung muss neu belebt werden

Joe Biden möchte daher die künftige Nato-Strategie stark auf China fokussieren. Etliche europäische Regierungen, etwa die deutsche, wollen das nicht. Entsprechend wurde gerungen, wie man China künftig definieren will. Ergebnis: Nicht als «Feind». Nicht als «Rivale». Vielmehr als «systemische Herausforderung». Auch so sagt man, dass die Differenzen und das Misstrauen gross und die beiden Systeme – das demokratische und das autoritäre – unverträglich sind.

Weniger Differenzen gab es darüber, wie man Russland gegenübertreten will. Es wird als aktuell grösste Bedrohung, das Verhältnis zu Moskau als hochproblematisch bezeichnet. Was übrigens gegenseitig ist.

Der russische Präsident Wladimir Putin sieht das Verhältnis zum Westen auf einem Tiefpunkt seit dem Ende des Kalten Kriegs. Joe Biden geht hier mit Putin völlig einig. Und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht es ebenso. Es gilt also das alte Prinzip der Abschreckung neu zu beleben. Ohne die Möglichkeit des Dialogs mit Moskau völlig zu verbauen.

Osteuropa: Die USA sollen Russland die Stirn bieten

Gerne sähe Biden in der Nato eine klare Aufgabenverteilung: Die Europäer kümmern sich um Russland. Damit sich die USA ganz auf den Hauptrivalen China konzentrieren können.

Doch diese Verantwortung wollen die meisten europäischen Länder nicht schultern. Und viele osteuropäischen Staaten haben ohnehin mehr Vertrauen, wenn die Amerikaner den Russen die Stirn bieten, als wenn das ihre westeuropäischen Nachbarn tun. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der nach militärischer Autonomie Europas ruft, möchte eine solche künftige Stärke nicht einfach im Auftrag der USA einsetzen.

Trotz der Differenzen in manchen Punkten, war die Harmonie im Grundsätzlichen auf diesem Gipfel offenkundig. Dabei wissen alle: Donald Trump war womöglich kein einmaliger Betriebsunfall in der US-Geschichte. Auch in Zukunft könnte einer wie er – oder gar er selber – gewählt werden. Der wiederbelebte Schulterschluss zwischen Europa und Joe Bidens USA hat womöglich eine kurze Halbwertszeit.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger und Informationen zu seiner Person.

Echo der Zeit, 14.06.2021, 18 Uhr ; 

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