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WHO ruft Pandemiefall aus Weckruf, Panikmache, späte Einsicht?

Epidemiologe Marcel Salathé stützt die «Diagnose» der WHO – und fordert unpopuläre Massnahmen im Kampf gegen das Virus.

Am 23. Januar blickten die Europäer aus sicherer Distanz ins ferne China, wo eine Millionenmetropole von der Aussenwelt abgeriegelt wurde. Ungläubiges Staunen schwang mit ob des unzimperlichen Vorgehens der Behörden im autokratisch geführten Land.

Nun, einige Wochen später, hat sich das Coronavirus über die ganze Welt ausgebreitet. Und im Herzen Europas steht das gesellschaftliche Leben zunehmend still: Die Strassenbilder aus Wuhan gleichen denjenigen aus Mailand; auch in der Schweiz ist mit weiteren drastischen Massnahmen zu rechnen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Die USA greifen mit dem Einreisestopp für Kontinentaleuropäer zum Vorschlaghammer. Kurz: Die Welt ist buchstäblich im Corona-Fieber, seit gestern quasi offiziell. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat den Pandemiefall ausgerufen.

Doch was heisst das überhaupt? Konkrete, rechtlich bindende Folgen habe das nicht, sagt SRF-Wissenschaftsredaktorin Katrin Zöfel: «Es ist einfach eine ehrliche Beschreibung der Situation.»

Die Ausrufung sei sicher nicht zu früh gekommen, bestätigt Marcel Salathé, Epidemiologe an der ETH Lausanne: «Die Daten waren schon relativ lange klar. Man muss ja nichts anderes tun, als auf eine Karte über die Ausbreitung des Virus zu schauen.»

Coronavirus-Erreger
Legende: «Eine Pandemie ist nichts anderes als eine globale Epidemie», sagt ETH-Forscher Salathé. Für ihn ist der Pandemiefall unstrittig – und auch für Laien ersichtlich. Reuters

Angesichts der weltweiten Ausbreitung des Erregers sei er «tief besorgt» über das «alarmierende Niveau der Untätigkeit» im Kampf gegen das Virus, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf.

Machen die Staaten tatsächlich zu wenig? Die deutlichen Worte seien auch als Weckruf gedacht, sagt Salathé. Zwar würden alle Länder die Situation ernst nehmen. Aber: «In den asiatischen Ländern hat man sie ernster genommen. Deswegen bin ich auch gespannt auf die Reaktion der europäischen Länder in den nächsten Tagen.»

Hätte man auch bei uns strenger durchgreifen müssen? Das werde erst die Zukunft zeigen, dann werde man die Lehren für künftige Epidemien ziehen können. «Jetzt müssen wir nach vorne schauen und uns fragen, wie wir die Probleme so schnell wie möglich in den Griff bekommen.» China, Japan und auch Südkorea zeigten, dass dies möglich sei, ist Salathé überzeugt: «Man muss aber auch wollen und die entsprechenden Massnahmen ergreifen.»

Die gleichen Massnahmen für alle Länder?

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Die Länder reagieren unterschiedlich auf die Ausbreitung des Virus. Ein Beispiel: Dänemark schliesst Schulen und Kitas, während die Schweizer Behörden genau davon abraten – denn dann würden die Kinder zuhause von ihren besonders gefährdeten Grosseltern gehütet.

Diese Vielstimmigkeit lasse sich kaum verhindern, sagt der Epidemiologe. Und auch in der Schweiz grassiere der Kantönligeist. Doch darin liegt aus wissenschaftlicher Warte auch eine Chance: «Denn mit unterschiedlichen ‘Experimenten’ sieht man, was funktioniert und was nicht.»

Das wirksamste Mittel gegen eine Ansteckung sei aber ohnehin klar: Abstand halten. «Das ist extrem wichtig, um die Übertragung des Virus durch Tröpfcheninfektion zu verhindern, die nur auf kurze Distanz möglich ist.»

Nachdem das Social Distancing auf individueller Ebene vorangetrieben worden sei, gelte es jetzt zu überlegen, wie dies auf der öffentlichen Ebene etabliert werden könne, so der ETH-Forscher: «Hier hat die Schweiz relativ früh reagiert.»

Den Willen, etwas zu unternehmen, hat die Tessiner Regierung am Mittwoch demonstriert. Seit Mitternacht ist das öffentliche Leben im Südkanton massiv eingeschränkt. Der Epidemiologe unterstützt dies: «Die Erfahrung und auch die Modelle zeigen, dass solche Massnahmen einen starken Einfluss auf den Verlauf der Epidemie haben können.»

Eben dieser Verlauf werde eine direkte Konsequenz der Massnahmen sein, die jetzt getroffen würden: «Deswegen hoffe ich, dass sie stark genug sind.» Das Beispiel Italien, wo das Gesundheitssystem zusehends an seine Grenzen gerät, zeigt für Salathé, wohin eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus führen kann.

Der Wissenschaftler anerkennt aber, dass sich die Behörden in einer delikaten Lage befinden: allem voran müssten sie auch die schwerwiegenden ökonomischen Auswirkungen ihres Handelns bedenken.

Argumentativ würden diese Entscheidungsträger nun von der WHO gestützt: «Die offizielle Ausrufung einer Pandemie gibt ihnen eine ganz andere Legitimität», sagt Salathé. Die teils gravierenden Eingriffe in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben liessen sich nun besser vermitteln.

SRF 4 News, 12.03.2020, 10:10 Uhr ; 

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