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Wie im 19. Jahrhundert «Böser Putin, gute Russen» – eine Illusion?

Russland agiere wie eine Kolonialmacht und fürchte eine militärische Niederlage, sagt der ukrainische Philosoph Wolodimir Jermolenko.

Wolodimir Jermolenko, einer der wichtigsten Intellektuellen der Ukraine, will mit Illusionen aufräumen, wenn es um Russland geht: «Die erste Illusion ist, dass es einen bösen Putin gibt und gute Russen. Wenn man die Umfragen in Russland anschaut, sieht man, dass eine Mehrheit Putin und den Krieg unterstützt.» Dieses politische Selbstverständnis der russischen Bevölkerung sei höchst problematisch, so Jermolenko.

Bei Russland handle es sich nicht um einen einfachen Nationalstaat, sondern vielmehr um ein Grossreich, das viele verschiedene Völker unterworfen und kolonialisiert habe.

«Ihr seid wie wir»

Der Kolonialismus der Europäer habe aber anders funktioniert als derjenige der Russen, so Jermolenko. «Die Europäer haben den kolonialisierten Völkern gesagt: ‹Ihr seid anders als wir, ihr seid weniger wert als wir.› Das heisst, das Instrument der Unterdrückung war die Differenz zwischen Kolonialherren und Untertanen.»

Jermolenko, ein Mann mit Brille und Glatze.
Legende: Der ukrainische Philosoph Wolodimir Jermolenko sagt, Russland kämpfe im Krieg gegen die Ukraine auch um sein Selbstverständnis. SRF/David Nauer

Russland hingegen habe Völker kolonialisiert, die nahe lagen – geografisch oder sprachlich. Das Instrument der Unterdrückung sei es deswegen gerade nicht, zu sagen «Ihr seid anders», sondern zu sagen: «Ihr seid gleich wie wir. Fangt gar nicht erst an, euch irgendwie unterscheiden zu wollen.»

Wenn nicht mal wir Ukrainer Russen sein wollen, wie sollen dann Tschetschenen, Burjaten oder Tataren überzeugt werden, dass sie eigentlich Russen sind?
Autor: Wolodimir Jermolenko Ukrainischer Philosoph

Das erkläre auch, warum Wladimir Putin seit Jahren behauptet, Ukrainer und Russen seien ein Volk. Jermolenko glaubt, dass das ukrainische Bestehen auf eine eigene Identität für Russland eine besondere Bedrohung ist: «Wenn nicht mal wir Ukrainer Russen sein wollen, wie sollen dann Tschetschenen, Burjaten oder Tataren überzeugt werden, dass sie eigentlich Russen sind?»

Ukrainisch-russische Gegensätze

So gesehen wird der russische Angriff zum Krieg einer Kolonialmacht, die nicht nur um Territorien, sondern auch um ihr Selbstverständnis kämpft. Dabei zerstören die imperialen Fantasien des Kremls nicht nur die Ukraine, sie schaden auch Russland.

Ukrainer sagen: Ich bin nicht einverstanden, denn ich bin klüger als unser Präsident.
Autor: Wolodimir Jermolenko Ukrainischer Philisoph

Dennoch glaubt Jermolenko nicht, dass in Russland selbst nennenswerter Widerstand gegen den Krieg entstehen kann. «Russlands politische Kultur fusst darauf, dass alles von oben nach unten organisiert wird. Das führt dazu, dass sich viele Bürger mit der autoritären Staatsmacht identifizieren. Entsprechend überlassen sie dem Zaren auch jede Entscheidungsgewalt, weil sie denken, er wisse schon, was zu tun sei.»

Artillerist-
Legende: Auch auf dem Schlachtfeld agieren die Russen wie man es früher tat: ein russischer Artillerist bei der tödlichen Arbeit. Keystone/Libkos

Die Ukrainer seien da ganz anders, so Jermolenko: «Ukrainer sagen: ‹Ich bin nicht einverstanden, denn ich bin klüger als unser Präsident. Ich bin mutiger als unser Präsident›.»

Politischer Wandel durch militärische Niederlage?

Für Jermolenko ist klar: Die russische Gesellschaft ist gelähmt, unfähig, von sich aus etwas zu verändern. Nur etwas, so der ukrainische Philosoph, könnte in Russland Umwälzungen auslösen: eine militärische Niederlage.

«Es gibt diese Illusion, dass Russland nie einen Krieg verliert. Davon müssen wir uns verabschieden. Russland hat schon viele Kriege verloren, etwa den Krimkrieg im 19. Jahrhundert oder in den 1980er-Jahren den Krieg in Afghanistan.» Im Anschluss an solche militärischen Niederlagen sei es jeweils zu Liberalisierungsschüben und einer Öffnung des politischen Systems gekommen.

Es ist ein Gedanke, den man oft hört in der kriegsversehrten Ukraine in diesen Tagen: Russland müsse besiegt werden, damit es sich ändere.

Echo der Zeit, 13.12.2022, 18:00 Uhr

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