«Wir schaffen das» – die Worte von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 31. August 2015 sind in der damaligen Flüchtlingskrise kurzzeitig zum Motto der «Willkommenskultur» geworden. Um den Aufruf sei es in den letzten Jahren wegen des politischen Aufstiegs der AfD immer stiller geworden, bemerkt Jochen Oltmer, Professor für Migrationsgeschichte an der Universität Osnabrück.
SRF News: Wie steht es heute um den Satz «Wir schaffen das»?
Jochen Oltmer: Es ging im Sommer 2015 darum, die Ankunft von Flüchtlingen vorzubereiten und einen Beitrag bei der Unterbringung zu leisten. Die Rede war allgemein von Integration mit der Perspektive, auch über Arbeit und Bildung zu sprechen. Ein Blick auf die Folgejahre bis heute zeigt insgesamt: Die Integration am Arbeitsmarkt ging relativ schnell und auf jeden Fall besser, als viele anfänglich prophezeit hatten. Auch im Bildungssektor lief es besser als angenommen, auch wenn es immer noch ziemliche Lücken gibt. Zusammenfassend hat vieles besser geklappt, als viele erwartet hatten.
Die Grenzen des Sagbaren sind gerade mit Blick auf die Migration massiv verschoben worden. Deshalb erscheint sie zunehmend als Bedrohung und Belastung.
Laut aktuellen Umfragen will die grosse Mehrheit der Deutschen weniger Geflüchtete im Land. Hat es Deutschland also doch nicht geschafft?
Vieles, was im Hinblick auf die Integration erwünscht war, ist geschafft worden. Gleichzeitig hat sich aber die politische Stimmung massiv verändert – und damit auch das Selbstbild der Bundesrepublik. Sie verstand sich 2015 noch sehr stark als humanitäre Macht, die auf Friedenslösungen, Diplomatie und weltweite Hilfslieferungen setzt. Das hat sich erheblich verändert. Die Lage ist viel stärker durch Polarisierung geprägt und lässt ein Stück weit Kompromissfähigkeit vermissen. Die Grenzen des Sagbaren sind gerade mit Blick auf die Migration massiv verschoben worden. Deshalb erscheint sie zunehmend als Bedrohung und Belastung.
Warum hat sich das Selbstbild der Deutschen so verändert?
Das hat wohl zu einem sehr guten Teil mit dem Aufstieg der AfD zu tun. Es wird sichtbar, dass sich die anderen politischen Parteien zunehmend stark gedrängt fühlen, eine restriktive Migrationspolitik aufzugleisen. Die Parteien sind nachgerade getrieben von den Forderungen der AfD.
Sie beraten auch Behörden im Bereich Migration. Wie fällt Ihre Bilanz in der Verwaltung aus?
In der Verwaltung und hier vor allem in den Kommunen zeigt sich ein sehr vielfältiges Bild. Eine Anzahl von Kommunen sieht sich überlastet, was die Aufnahme von Schutzsuchenden angeht. Eine weitere Gruppe von Städten und Gemeinden verweist explizit darauf, dass diese Hilfe für sie kein erhebliches Problem darstellt. Etwa ein Drittel der Kommunen wiederum spricht von einer gewissen Belastung, mit der man aber sehr gut zurechtkomme.
Warum konnte Deutschland nicht mehr Einigkeit und Tatkraft aus dem Jahr 2015 mitnehmen?
Da kommen viele Aspekte zusammen. Wichtig ist aber vor allem: Die Atmosphäre hat sich schon im Spätsommer und Herbst 2015 sehr stark verändert. Standen Monate zuvor noch humanitäre Ankunftspolitik und Arbeitsmarktpotenzial im Vordergrund, waren es zunehmend die Themen Terrorismus und Kriminalität. Vor diesem Hintergrund kann ganz klar von einem fundamentalen Stimmungswandel gesprochen werden.
Das Gespräch führte Peter Hanselmann.