An der Place de la République unweit der Anschlagsorte startet der Gedenklauf. Opfer und Angehörige aus Paris gehen gemeinsam Richtung Bataclan-Konzertsaal.
Gislaine läuft am Rand mit. Wie alle anderen trägt auch sie ein oranges T-Shirt mit der Aufschrift «13 unis» unter dem Wintermantel.
Sie sei aus Solidarität mit den Opfern gekommen, sagt Gislaine und bleibt vor dem Bataclan stehen, wo die Schweigeminute für die Opfer begonnen hat. Einige legen Blumen nieder. Im Hintergrund spielt ein Streichquartett.
Es geht darum, dass wir alle zusammenkommen und etwas Positives machen.
Während viele langsam weitergehen, verharrt Christophe vor dem Bataclan: Vor zehn Jahren war er drin, versteckt in einem Abstellraum. Er sei gekommen, um zu gedenken, und auch aus Solidarität mit den Opfern von Terrorismus: «Es geht darum, dass wir alle zusammenkommen und etwas Positives machen.»
Gedenken sei für ihn auch nach zehn Jahren wichtig, betont Christophe. Viele nicht betroffene Menschen seien längst zu anderen Dingen übergegangen. Und nach dem Hype dieser Woche werde bald alles wieder vorbei sein: «Deshalb finde ich es wichtig, neben den ernsteren Gedenkfeiern auch an einigen solchen Veranstaltungen teilzunehmen.»
Damit es einer Person besser geht, muss ihre persönliche Erinnerung mit der kollektiven verbunden sein.
Vor allem für Menschen wie Christophe sei es wichtig, dass sich die gesamte Gesellschaft erinnere, sagt der bekannte Neuropsychologe Francis Eustache. Er leitet seit 2015 eine grossangelegte Studie zur Erinnerung an die Anschläge.
«Damit es einer Person besser geht, muss ihre persönliche Erinnerung mit der kollektiven verbunden sein. Sie muss es also schaffen, mit anderen wie Freunden, Arbeitskolleginnen oder Familienangehörigen zu interagieren.» Zudem müsse ihre Erinnerung von der Gesellschaft anerkannt werden.
Kein Mensch soll vergessen werden
Nach den Worten von Eustache ist der 13. November 2015 nach wie vor tief im Gedächtnis der Französinnen und Franzosen verankert – mehr noch als 9/11 oder der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo.
Doch die Erinnerung an die Anschläge von Mitte November habe sich bereits verändert. Die Erinnerung an den Tag werde zunehmend nur noch zur Erinnerung an die Schiesserei im Bataclan-Konzertsaal. Das sei ein Problem für Menschen, die sich damals an anderen Orten befunden oder dort Angehörige verloren hätten. «Sie werden weniger anerkannt in der Erinnerung der Gesellschaft», so der Neuropsychologe.
Doch an diesem Gedenklauf werden die Bistros und Bars, auf die damals geschossen wurde, nicht vergessen. Die Teilnehmenden erinnern sich an die gesamte Anschlagsserie. Die Erinnerung ist bei vielen noch lebendig. Manche wissen auch noch genau, was sie machten, als sie von den Attentaten hörten.
«Blitzlicht-Erinnerungen»
Solche «Blitzlicht-Erinnerungen» haben gemäss einer aktuellen Umfrage rund 60 Prozent der Pariserinnen und 40 Prozent der Franzosen auch zehn Jahre nach den Anschlägen. Auch Gislaine. Den ganzen Abend habe sie damals ihren Sohn zu erreichen versucht, der an einem Konzert in Paris gewesen sei. Glücklicherweise sei dieses nicht im Bataclan gewesen, sagt sie. Doch an die Angst damals könne sie sich auch heute noch erinnern.
Blitzlicht-Erinnerungen, Dokumentationen und Gedenkfeiern – all das hält die Erinnerung an den 13. November 2015 lebendig. Das dürfte auch im Gedächtnis der Französinnen und Franzosen haften bleiben, so Eustache. «Wie sich die Erinnerung entwickelt, wird die Zeit zeigen – für die meisten aber weniger intensiv und schmerzhaft.»