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Zwei Jahre Brexit Ein böses Erwachen für Grossbritannien

Der Brexit bremst die britische Wirtschaft stärker als vor dem Austritt angenommen. Und es dürfte noch schlimmer kommen.

«Ich fühle mich getäuscht und im Stich gelassen», sagt der Unternehmer Simon Spurrell ohne Umschweife – auf die Folgen des Brexits angesprochen. Spurrell produziert seit 2010 aromatisierte Spezialkäse-Sorten und investierte 2019 rund eine Million Pfund in ein neues Reifelager und in den Vertrieb, um seine Spezialitäten vom mittelenglischen Macclesfield aus in die EU-Länder verschicken zu können.

Der Brexit war damals schon beschlossene Sache. Und die britische Regierung befand sich mit der EU mitten in einer Kampfscheidung.

Der Käseproduzent glaubte jedoch den Beteuerungen der konservativen Regierung, das Austrittsabkommen werde der Exportwirtschaft nicht schaden. «Man versprach uns einen reibungslosen Übergang; alles werde für uns beim Alten bleiben. Das hat mich als Brexit-Gegner beruhigt», so Spurrell.

Wie würden die Britinnen und Briten heute entscheiden?

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Es sieht ganz danach aus, dass sich eine Mehrheit der Britinnen und Briten heute gegen einen Austritt entscheiden würde. Darauf deutet eine am 24. November 2022 publizierte Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov hin. 6174 Britinnen und Briten wurden gefragt, wie es seit dem «EU-Austritt am 31. Dezember 2020 mit Brexit so laufe? Wie gut oder wie schlecht?»

  • Lediglich 2 Prozent der Befragten sagten, es laufe «sehr gut».
  • 10 Prozent antworteten «ziemlich gut»,
  • 20 Prozent «weder gut noch schlecht»,
  • 23 Prozent «ziemlich schlecht» und
  • 36 Prozent «sehr schlecht».
  • 9 Prozent sagten, sie wüssten es nicht.

Zusammengefasst heisst dies: 59 Prozent der Befragten haben eine schlechte bis sehr schlechte Meinung über den Brexit. Eine gute bis sehr gute Meinung haben nur noch 12 Prozent.

Der Meinungsumschwung hat im Frühjahr 2021 eingesetzt, als die Folgen des Austritts spürbar wurden. Heute sagen 56 Prozent der Britinnen und Briten, der Austritt sei falsch gewesen. Nur noch 32 Prozent sagten Mitte November, es sei richtig gewesen – gemäss einer Langzeitstudie von YouGov.

Export in die EU geht zurück

Doch für den Käseexporteur folgt das böse Erwachen schon wenige Tage nach dem Austritt, Anfang Januar 2021. Seine Käsepakete werden an der Grenze zurückgewiesen, weil die nun plötzlich erforderlichen Lebensmittel-hygienischen Zertifikate fehlen. «Uns hatte niemand vorgewarnt», kritisiert der Unternehmer. Und er sieht sich gezwungen, den Export in die EU-Länder über Nacht einzustellen und seinen Onlineshop vom Netz zu nehmen.

Uns hatte niemand vorgewarnt.
Autor: Simon Spurrell Unternehmer

Für jedes Paket einzeln ein im Bestimmungsland anerkanntes Hygienezertifikat anfertigen zu lassen, wäre viel zu teuer geworden, rechnet Simon Spurrell vor: «Eine Käsebestellung im Wert von 30 Pfund kostet 12 Pfund für den Versand. Das sind die Leute bereit, zu bezahlen. Doch plötzlich kamen Zertifizierungskosten von 180 Pfund dazu. Da lohnt sich der Direktversand natürlich nicht mehr.»

Simon Spurrell kann beziffern, wie viel Geld seine «Cheshire Cheese Company» seither verloren hat: Rund 600'000 Pfund sind ihm entgangen, weil der Export in die EU zusammengebrochen ist.

Wie stark belastet der Brexit die britische Wirtschaft?

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Der Leiter der englischen Zentralbank, Gouverneur Andrew Bailey, erklärte im November gegenüber Unterhaus-Abgeordneten, der Brexit werde einen «längerfristigen Rückgang der Produktivität von gut 3 Prozent» verursachen.

Und: Tiefere Produktivität heisst auch tieferes Wachstum. Die Aufsichtsbehörde für Budget-Verantwortung (OBR) schätzt, dass der Brexit das Bruttoinlandprodukt des Vereinigten Königreichs mittelfristig um 4 Prozent schmälern wird.

Der frühere Gouverneur der englischen Zentralbank, Mark Carney, sagt es so: «2016 (im Jahr des Brexit-Entscheides, Anm.d.R.) betrug die Grösse der britischen Wirtschaft 90 Prozent jener Deutschlands. Heute liegen wir unter 70 Prozent.»

Brexit bremst Wachstum, Investitionen und Innovation

Käse ist eines von vielen Produkten, deren Exporte seit dem Brexit abnehmen. Volkswirtschaftlich weit schwerer ins Gewicht fällt beispielsweise der Einbruch der Exportzahlen von Autos, dem wichtigsten britischen Exportgut – um satte 24 Prozent, seit 2016 – als der Austrittsentscheid getroffen wurde.

Die schwächelnde Exportwirtschaft trägt mit dazu bei, dass das britische Wirtschaftswachstum hinter den anderen G7-Staaten zurückbleibt. Gemäss der britischen Zentralbank liegt das Bruttoinlandprodukt des Vereinigten Königreichs noch 0.7 Prozent unter dem Vor-Pandemie-Niveau, während sich andere G7-Länder längst von der Corona-Krise erholt haben: Das BIP der Eurozone ist bereits 2.1 Prozent höher als Ende 2019; jenes der USA sogar 4.2 Prozent höher.

«Dass wir uns langsamer erholen, hat eindeutig auch mit dem Brexit zu tun», sagt Ökonomin Anna Valero von der London School of Economics gegenüber SRF. Firmen investierten unterdurchschnittlich im Heimmarkt. Das sei «ein chronisches Problem», so Valero, das sich seit dem Brexit noch verschärft habe: «Es vermindert die Produktivität der Firmen, wenn sie zum Beispiel die nötigen Investitionen in ihre Informatik nicht tätigen.»

Das schade auch der Wettbewerbsfähigkeit und der Innovationskraft der britischen Firmen. Valero: «Es braucht dringend mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in die Weiterbildung von Arbeitskräften.»

Doch die harzigen, teils ungeklärten Beziehungen zur wichtigsten Aussenhandelspartnerin, der EU, liessen viele britische Unternehmen zögern, beobachtet die Ökonomin.

Bilaterale Verträge mit der EU – nach Schweizer Art?

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Die britische Regierung unter Rishi Sunak hat längst erkannt, dass die belasteten Beziehungen zur wichtigsten Aussenhandelspartnerin, der EU, die britische Wirtschaft belasten. Doch eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht; eine plötzliche Charmeoffensive gegenüber der EU schon gar nicht. Denn der politische Spielraum für Premier Sunak ist sehr klein, wie ein Versuchsballon aus Sunaks Umfeld kürzlich deutlich machte.

Die «Sunday Times» titelte am 20. November, Grossbritannien erwäge bilaterale Verträge mit der EU im «Swiss-style». Gestützt auf Informationen aus «gut unterrichteten Kreisen» könnte der Wiederbeitritt zum Binnenmarkt angestrebt werden, im nächsten Jahrzehnt. Den freien Personenverkehr wieder zuzulassen dagegen, sei kein Thema. 

Der Artikel löste ein Sturm der Entrüstung aus: «Jeder Ansatz, der vom Vereinigten Königreich verlangt, EU-Regeln zu übernehmen, um vorteilhaften Marktzugang zu bekommen, sei es über bilaterale Verträge nach Schweizer Art oder auf andere Weise, ist inakzeptabel», ging der frühere Brexit-Minister David Frost auf die Barrikaden. Andere Brexit-Verfechter folgten.

Auch die oppositionelle Labour-Partei umschifft das Brexit-Thema nach Kräften, da ein wesentlicher Teil seiner Stammwählerschaft in den strukturschwachen Gebieten in Mittel- und Nordengland für den Brexit gestimmt hat.

Vorschläge über allfällige Nachbesserungen des Austrittsabkommens sind von Labour deshalb keine zu hören. Labour-Chef Keir Starmer winkt ab: «Den Brexit-Deal wieder aufzuschnüren, würde erneut zu jahrelangen Rangeleien führen», nimmt Starmer den «Swiss-Style»-Versuchsballon aus Sunaks Umfeld aufs Korn.

Ein neuer Deal mit der EU?

«Wir sollten dem Binnenmarkt sofort wieder beitreten. Das wäre das Einfachste», sagt Käseexporteur Simon Spurrell. «Danach könnten wir mit der EU einen besseren Deal aushandeln.» Gleichzeitig weiss Spurrell, wie stark die Brexit-Frage das Land bis heute spaltet und sowohl die Regierung wie auch die Opposition am liebsten gar nicht mehr über Brexit und seine Folgen diskutieren möchten.

Der Käseexporteur hat deshalb die Flucht nach vorn gewagt: Mitte November verkaufte er seine Firma zu drei Viertel dem grössten Hersteller von Cheshire-Käse. «So kann ich wieder nach Europa exportieren, weil die Mutterfirma unsere Zoll- und Hygiene-Zertifikate viel effizienter, zusammen mit ihrem Gross-Versand erledigen kann.»

10vor10, 30.12.2022 21:50 Uhr

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