Fast 40 Jahre lang ist Hans Heule als Lokomotivführer durch die Schweiz gefahren. Vor 30, 40 Jahren habe man die Windschutzscheibe nach jeder Fahrt intensiv putzen müssen, sagt er. Er erinnert sich, dass er früher ganze Wolkentürme an Mücken durchfuhr: «Es hat wie Regen gegen die Scheiben geklatscht und es war alles voller Resten von Mücken und Käfern.»
Heule ist nicht alleine mit dieser Erinnerung. Auf Anfrage von Radio SRF sagt ein Dutzend älterer Lokführer und Autofahrerinnen unisono, die Zahl der zerplatzen Insekten habe stetig abgenommen. Das ist zwar ein starkes Indiz für den Rückgang der Insekten, aber langjährige Datenreihen zur mengenmässigen Abnahme aller Insekten gibt es in der Schweiz nicht.
In einem deutschen Naturschutzgebiet in der Nähe von Düsseldorf hat ein Insektenverein hingegen über Jahrzehnte hinweg immer am gleichen Ort Insekten gefangen und in Gramm gemessen, wie stark diese Menge zurückgegangen ist: In den letzten gut 25 Jahren war es eine Abnahme um 80 Prozent.
Kaum noch Schmetterlinge zu sehen
Die meisten Schweizer Insektenforscher zeigen sich nicht überrascht über diesen massiven Rückgang. Der Zoologe Hansueli Wildermuth zum Beispiel, heute 76 Jahre alt, hat schon in seiner Primarschulzeit Schmetterlinge auf den Wiesen um sein Elternhaus beobachtet: «Es waren vor allem verschiedenen Bläulinge; Schwalbenschwanz oder Tagpfauenauge, Admirale… Diese Arten sind praktisch nicht mehr da.» Gleichzeitig sind auch unzählige Käferarten, Wildbienen, Schwebefliegen und sogar Mücken seltener geworden.
Der Waldrand, der Obstgarten, die Wiese, der Garten: Alles ist noch da, aber die Nutzung hat sich stark verändert.
Insekten, insbesondere Mücken, haben bei uns Menschen nicht den besten Ruf. Nur geht dabei schnell vergessen, dass Insekten unsere Obstbäume und Feldfrüchte bestäuben. Und Insekten oder deren Larven sind eine wichtige Nahrung für grössere Tierarten wie etwa Vögel. Wildermuth erinnert sich, welche Arten alle verschwunden sind aus dem Obstgarten um sein Haus.
«Da waren Gartenrotschwanz, Kleinspecht, Distelfink, Trauerschnäpper und sogar der Wendehals.» Dabei habe sich auf den ersten Blick eigentlich nichts verändert, wenn er aus dem Fenster schaue: «Der Waldrand, der Obstgarten, die Wiese, der Garten: Alles ist noch da, aber die Nutzung hat sich stark verändert.»
Raupen leiden unter Häcksler und Gülle
Früher haben die Bauern die Wiesen zweimal im Jahr gemäht. Es gab einen buschigen, wilden Übergang zum Waldrand, wo sich die Schmetterlingsraupen zurückziehen und verpuppen konnten, um im nächsten Frühjahr zu schlüpfen. Heute werden die Wiesen bis zu achtmal pro Jahr geschnitten, viele Insekten werden dabei verhäckselt. Zudem werden die Wiesen intensiv mit Gülle gedüngt. Dadurch sind sehr viele Wiesenpflanzenarten verschwunden und mit ihnen die Insekten, die sich von bestimmten, wenigen Pflanzen ernährt haben.
Nachtfalter ziehen sich mit den Jahren immer mehr zurück in Gebiete, die weniger beleuchtet sind.
Wie die meisten der befragten Insektenkundler sieht Wildermuth diesen Verlust ihres Lebensraumes als Hauptgrund für den Rückgang der Insekten, dazu kommt der Einsatz von Pestiziden. Aber nicht überall geht der Trend bei den Insekten abwärts. Es gibt einige Arten, die anpassungsfähig sind und heute sogar häufiger vorkommen als früher. Zudem gibt es einige wärmeliebende Arten, die sich mit der Klimaerwärmung über die Alpen gegen Norden ausgebreitet haben.
Nachtfalter vom künstlichen Licht gestört
Nachtfalterspezialist Ladislaus Reser warnt vor zu grossem Alarmismus: «Ich kann sagen, dass die Nachtfalter in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten überhaupt nicht weniger geworden sind.» Er hat im Berner Seeland zehn Jahre lang immer am gleichen Ort nicht nur die Artenzahl, sondern auch die Menge der Nachtfalter gemessen. Reser schränkt allerdings ein: «Für die Nachtfalter ist es ein grosses Problem, dass die Beleuchtung immer mehr zunimmt. Sie ziehen sich mit den Jahren immer mehr zurück in Gebiete, die weniger beleuchtet sind.»
Je nach Insektengruppe spielen also wieder andere Einflüsse eine Rolle. Und je nach Lebensraum – Wiese, Wald oder Gebirge – ist die Lage verschieden. Wie stark die gewichtsmässige Menge der Insekten in der Schweiz zurückgegangen ist, wird unter Experten deshalb unterschiedlich eingeschätzt. Aber dass es sehr viele Orte in der Schweiz gibt, wo früher verbreitete Insektenarten heute nicht mehr vorkommen, ist durch regelmässige Bestandsaufnahmen klar belegt.
Ein Blick auf die rote Liste zeigt: 5 Prozent der untersuchten Insektenarten in der Schweiz sind verschwunden. 40 Prozent sind gefährdet oder gar akut bedroht.