Am 16. März warnte ein britisches Forscherteam, Grossbritannien müsse mit einer halben Million Corona-Toten rechnen, wenn die Regierung nicht schnell handle. Kurz darauf verfügte Premier Boris Johnson einschneidende Massnahmen.
Die Prognose der Forscher fusste auf einem Modell der Pandemie. Sie verwendeten dazu jene Angaben zum Verhalten des Virus, die bereits bekannt waren. Für die unbekannten Eigenschaften mussten sie Annahmen treffen.
Zu viele Unbekannte
Melissa Penny vom Schweizer Tropen- und Public-Health-Institut sagt, solche Modelle seien nützlich, weil die meisten Menschen sich nicht vorstellen können, was exponentielles Wachstum bedeutet. «Die Prognose des Modells hat Regierung und Öffentlichkeit klargemacht, was auf dem Spiel stand.»
Die Modelle können keine exakten Prognosen abgeben.
Epidemiologin Penny ist in der Corona-Taskforce des Bundes und arbeitet selbst mit Modellen. Sie sagt, in der aktuellen Pandemie sei vieles noch unbekannt. So sei etwa die genaue Rolle der Kinder bei der Verbreitung des Virus noch immer unklar. «Das führt dazu, dass die Modelle keine exakten Prognosen abgeben können.» Die Rolle der Modelle sei vielmehr, verschiedene Szenarien untereinander abzuwägen.
Das hatte auch das britische Team um Neil Ferguson Mitte März getan. Die Forscher untersuchten ein Szenario, bei dem schwächere Massnahmen die Verbreitung des Virus nur verlangsamen sollten, sowie einen harten Lockdown, der die Verbreitung abwürgen sollte.
Kommunizieren die Forscher unvollständig?
So weit, so gut, sagt der Epidemiologe Gérald Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Aber aus seiner Sicht haben viele Modelle Schwächen – weil viele Faktoren in den Modellen nicht berücksichtigt würden. Dazu gehöre etwa die ungeklärte Frage, ob sich das Virus im Sommer weniger stark verbreitet.
Zwar sei verständlich, dass man in solchen Modellen, nicht alles berücksichtigen könne, zumal man ja schnell Ergebnisse brauche. Doch die Frage sei, wie weit sie als Grundlage für Entscheide dienen könnten.
Für Krause steht ausser Zweifel, dass die britische Regierung Mitte März handeln musste. Aber er habe den Eindruck, dass sich viele Forscher, die mit Modellen arbeiten, der begrenzten Aussagekraft nicht immer bewusst seien – oder sie würden diese Grenzen zumindest nicht genügend kommunizieren.
Auch frühere Erfahrungen sind wichtig
Dem widerspricht die Epidemiologin Penny. Sie und ihre Kollegen wüssten sehr wohl um die Unsicherheiten ihrer Modelle und Prognosen. Es sei die Aufgabe der Forscherinnen und Forscher, Regierungen und Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen. «Aber es kommt halt vor, dass dies in den kurzen Medienbulletins vergessen geht.» Oder dass die Medien diese wichtige Information nicht weitergeben würden.
Auch menschliche und politische Erfahrung, ethische Werte, Machbarkeit, gesellschaftliche Akzeptanz und die Langzeitwirkung müssen mitbedacht werden.
Einig sind sich Penny und Krause darin, dass sich Regierungen bei ihren Entscheiden auf keinen Fall nur auf Modelle abstützen sollten. Auch Erfahrungen und Daten aus früheren Epidemien müssten dazu berücksichtigt werden, so Penny. Und Krause ergänzt: «Auch menschliche und politische Erfahrung, ethische Werte, Machbarkeit, gesellschaftliche Akzeptanz und die Langzeitwirkung müssen mitbedacht werden.»
Das Ganze ist also eine komplexe Gemengelage, mit der sich Regierungen und Gesellschaft in den letzten Monaten auseinandersetzen mussten und müssen. Modelle können dabei helfen – aber sie nehmen uns die Entscheidungen nicht ab.