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30 Jahre EWR-Nein Beitritt? Nein danke! – Junge zeigen EU die kalte Schulter

«Soll die Schweiz der EU beitreten oder nicht?» Wie stark sich die Schweiz in den letzten 30 Jahren von der EU abgewandt hat, wird ersichtlich, wenn man die 18- bis 34-Jährigen in den Fokus nimmt. Bei ihnen hat sich ein dramatischer Meinungsumschwung vollzogen.

Die jungen Erwachsenen zwischen 18 und 34 Jahren waren einst die EU-freundlichste Altersgruppe in der Schweiz. In den 90er-Jahren sah noch mehr als die Hälfte der 18- bis 34-Jährigen die Zukunft der Schweiz in der EU. 59.2 Prozent wollten beitreten, 31.8 Prozent lehnten dies ab.

Doch seither hat die EU-Begeisterung bei dieser Altersgruppe dramatisch abgenommen. 2019 wollten gerade noch 6.5 Prozent der jungen Erwachsenen der EU beitreten, 77.9 Prozent sprachen sich für den Alleingang aus. Heute sind die 18- bis 34-Jährigen die EU-skeptischste Altersgruppe.

Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Grundsätzlich sei der Beitritt nur in den 1990er-Jahren eine Option gewesen, die ernsthaft diskutiert worden sei, sagt Politgeograph Michael Hermann: «Nach der EWR-Abstimmung 1992 wurde die Europafrage zu der zentralen politischen Frage. Ein Teil der Bevölkerung sehnte sich nach einer Öffnung nach den Jahren des Kalten Kriegs, für viele war es der Ausbruch aus dem Gefängnis, wie es Friedrich Dürrenmatt formuliert hatte. Da war Europa eine Art Sehnsuchtsort. Die andere Seite hingegen wollte die nationale Souveränität bewahren.»

Doch bereits in den 2000er-Jahren nahm die Unterstützung für einen Beitritt stark ab. Hermann nennt verschiedene Gründe für diese Entwicklung: die erfolgreichen bilateralen Abkommen, die aufkommende Skepsis gegenüber der Personenfreizügigkeit und wie Brüssel während der Euro-Krise mit den Südländern umgegangen sei.

Das Schicksal der Nachgeborenen

Dass sich dabei die jungen Erwachsenen speziell stark von einem EU-Beitritt distanziert haben, erklärt Herrmann mit dem Schicksal der Nachgeborenen: «Die junge Generation wurde politisch sozialisiert, als der Beitritt vom Tisch war. Entsprechend gibt es nur wenige, die das als Herzensthema sehen. Und bei den älteren gibt es eben noch diejenigen, die bei ihrer Haltung geblieben sind.»

Gerade für die Jungen ist ein Beitritt dann besonders attraktiv, wenn sie einen Nutzen sehen.
Autor: Fabio Wasserfallen Professor Universität Bern

Fabio Wasserfallen, Professor an der Universität Bern, erwähnt noch zwei weitere Gründe, warum sich die jungen Erwachsenen speziell stark von einem EU-Beitritt abgewendet haben. Für diese Bevölkerungsgruppe seien die Errungenschaften der EU eine Selbstverständlichkeit, das freie Reisen und das Arbeiten in anderen Ländern; harte Grenzen kenne diese Altersgruppe nicht mehr.

Zudem seien auch die Vorteile eines Beitritts nicht klar: «Gerade für die Jungen ist ein Beitritt dann besonders attraktiv, wenn sie einen Nutzen sehen, einen wirtschaftlichen Nutzen, eine Stabilisierung des politischen Systems; entsprechend ist heutzutage für die Schweizer Jugendlichen schwer zu sehen, warum sie für ihre Lebensperspektive einen EU-Beitritt brauchen.»

EU-Begeisterung in den neuen Mitgliedstaaten

Als Kontrast erwähnt Fabio Wasserfallen die EU-Begeisterung, etwa in den neueren EU-Mitgliedstaaten. Dort ist die EU-Begeisterung gerade auch unter den Jungen ungleich grösser als in der Schweiz. Vor allem für die jungen Menschen dort sei klar, dass der EU-Beitritt ihre Länder demokratisch stabilisiert habe und wirtschaftlich vorwärtsbringe; zudem sei ihnen auch klar, dass die Mitgliedschaft für ihre individuelle Lebensperspektive sehr wichtig sei.

Die Abkehr von der EU vor allem bei jungen Erwachsenen in der Schweiz hat auch politische Implikationen. Ein Problem ist dies für diejenigen Organisationen und Parteien, die den Beitritt noch immer oder wieder auf ihre Fahne geschrieben haben. Allerdings muss man in aller Offenheit sagen, dass eine solche Debatte wegen der fehlenden Dringlichkeit etwas eine «Scheindebatte» ist, die von den durchaus vorhandenen Problemen im bilateralen Verhältnis ablenkt.

Chronologie der Entfremdung – Die letzten 30 Jahre im Überblick

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Schweizer Flagge.
Legende: Keystone

22. Oktober 1991 Unterhändler der EG (heute EU) und der EFTA schliessen in Luxemburg ihre Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab. Mit dabei sind die Bundesräte Felber und Delamuraz. Um 4 Uhr früh rufen die beiden im Gebäude der EG-Kommission zur Pressekonferenz und verkünden, der Bundesrat betrachte den EWR nur als eine Etappe auf dem Weg zum vollen Beitritt zur EG.

  • Im Rückblick betrachtet, liefert der Bundesrat damit den EWR-Gegnern ein wichtiges Argument für den späteren Abstimmungssieg.

7. Februar 1992 Die EG-Staaten unterzeichnen den Vertrag von Maastricht. Es ist der grösste Integrationsschritt seit Gründung der EG und Grundlage zur Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion.

  • Nur drei Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist das ein weiteres Zeichen, dass sich die politische Ordnung in Europa rasant verändert.


18. Mai 1992 Der Bundesrat beschliesst, bei der EG ein offizielles Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einzureichen.

  • Der Entscheid entspringt der Angst einer Mehrheit im Bundesrat, die Schweiz werde die Dynamik in Europa verpassen und deswegen wirtschaftlichen Schaden erleiden.

6. Dezember 1992 Das Schweizer Stimmvolk sagt mit 50.3 Prozent Nein zum EWR.

  • Ein Schock für die politische Elite der Schweiz, die geschlossen für ein Ja gekämpft hat. Und ein Sieg für Christoph Blocher und der Beginn des Aufstiegs seiner dezidiert rechts-konservativ ausgerichteten SVP.

20. Februar 1994 Das Schweizer Stimmvolk sagt mit 51.9 Prozent Ja zur Alpenschutz-Initiative. Sie verlangt, dass der alpenquerende Gütertransitverkehr von der Strasse auf die Schiene verlagert wird.

  • Aus Sicht der EU ist das ein weiterer Affront der Schweiz und ein grosser Stolperstein für die anstehenden bilateralen Verhandlungen.

Dezember 1994 Auftakt zu den Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über bilaterale Abkommen. Die EU hatte sich in sieben Bereichen verhandlungsbereit gezeigt, unter der Bedingung, dass die Verträge nur in Kraft treten können, wenn man sich in allen sieben Bereichen einig geworden ist. Am 21. Juni 1999 ist das der Fall.

  • Diese Bedingung der EU findet als sogenannte «Guillotine-Klausel» Eingang in die sieben Abkommen. Sie besagt: Wird ein Abkommen gekündigt, werden auch alle anderen ausser Kraft gesetzt. So wollte die EU verhindern, dass die Schweiz nur dort einem Vertrag zustimmt, wo es in ihrem Interesse ist («Rosinen picken»).

21. Mai 2000 Das Stimmvolk sagt mit 67.2 Prozent Ja zu den bilateralen Verträgen.

  • Knapp acht Jahre nach dem EWR-Nein findet die Schweiz doch noch Anschluss an den europäischen Binnenmarkt. Die Gefahr der Isolierung ist vorerst abgewendet. Gleichzeitig rückt ein EU-Beitritt politisch in weite Ferne.

3. März 2002 Das Stimmvolk sagt mit 54.6 Prozent Ja zum UNO-Beitritt.

  • Die Schweiz macht einen grossen Schritt zurück auf die internationale Bühne.

1. Mai 2004 Zehn Staaten treten der EU bei, darunter acht osteuropäische. Die EU vergrössert sich damit von 15 auf 25 Mitglieder. Es ist der bisher grösste Erweiterungsschritt der Union.

  • Die Spaltung Europas aus dem Kalten Krieg wird damit überwunden.

26. Oktober 2004 Die Schweiz und die EU unterzeichnen ein zweites Paket von bilateralen Abkommen. Es regelt unter anderem die Zusammenarbeit bei den Grenzkontrollen und im Asylwesen (Regelwerke von Schengen und Dublin). Gegen diesen Teil der Bilateralen II wird das Referendum ergriffen.

  • Es ist das Resultat eines klassischen Gebens und Nehmens. Beide Seiten haben Themen, bei denen ihnen mehr Kooperation wichtig ist, und daraus entsteht ein Gesamtpaket.

5. Juni 2005 Das Stimmvolk sagt mit 54.6 Prozent Ja zu Schengen/Dublin.

25. September 2005 Das Stimmvolk sagt mit 56 Prozent Ja zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf zehn neue EU-Länder.

26. November 2006 Das Stimmvolk sagt mit 53 Prozent Ja zum Osthilfegesetz. Es ist die Grundlage für die Auszahlung der sogenannten «Kohäsionsmilliarde» an die osteuropäischen EU-Staaten.

8. Februar 2009 Das Stimmvolk sagt mit 59.6 Prozent Ja zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Mitglieder Bulgarien und Rumänien.

  • Diese Serie von Abstimmungserfolgen bestätigt den Bundesrat in seinem Kurs zur Konsolidierung der Beziehungen zur EU.

18. Dezember 2013 Der Bundesrat beschliesst ein Mandat für die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen. Es soll offene institutionelle Fragen klären, insbesondere wie Konflikte in der Auslegung der bilateralen Abkommen beigelegt werden können.

  • Im Verhandlungsmandat legt der Bundesrat «rote Linien» fest. Mit ihnen will er die Kernanliegen wichtiger politischer Akteure wie der Gewerkschaften oder der bürgerlichen Parteien schützen und sich damit politischen Rückhalt sichern.

9. Februar 2014 Das Stimmvolk befürwortet mit 50.3 Prozent Ja-Stimmen die Masseneinwanderungsinitiative (MEI). Sie fordert eine Beschränkung der Zuwanderung, was dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU widersprechen würde.

  • Das Abstimmungsergebnis stellt das ganze erste Paket bilateraler Abkommen infrage . Das Parlament rettet sich aus der Sackgasse, indem es die Initiative «kreativ» umsetzt. Im Verhältnis mit der EU führt der Volksentscheid zu monatelanger Funkstille.

24. November 2015 Wiederaufnahme der Verhandlungen über das Rahmenabkommen

  • Ende der offiziellen Funkstille zwischen Bern und Brüssel seit der MEI-Abstimmung

15. Juni 2016 Der Ständerat stimmt als zweite Kammer dafür, dass die Schweiz ihr Beitrittsgesuch aus Brüssel zurückzieht.

  • Die Option eines Vollbeitritts zur EU ist immer eine theoretische geblieben. Jetzt ist sie auch formell vom Tisch. Für «Brüssel» ist der Schritt dennoch ein weiterer «unfreundlicher Akt».

23. Juni 2016 Das Stimmvolk in Grossbritannien stimmt mit 51.9 Prozent für den Austritt aus der EU (Brexit).

  • Angesichts dieser neuen existenziellen Herausforderung verringert sich nach Ansicht vieler die Bereitschaft der EU, auf die Wünsche der Schweiz einzugehen.

20. September 2017 FDP-Nationalrat Ignazio Cassis wird in den Bundesrat gewählt.

  • Im Vorfeld seiner Wahl hatte Cassis in einem Interview angekündigt, er werde sich für einen Neustart im Verhältnis zur EU einsetzen und den «Reset»-Knopf drücken.

12. Juni 2018 In einem Interview mit Radio SRF stellt Cassis die flankierenden Massnahmen zur Disposition. Sie sorgen unter anderem dafür, dass Anbieter aus dem EU-Raum in der Schweiz kein Lohndumping betreiben dürfen.

  • Für die Gewerkschaften ist das ein Affront. Sie gehen in der Europa-Politik in eine Blockade-Haltung.

23. November 2018 Cassis spricht in Zürich mit EU-Kommissar Johannes Hahn über den Stand der Verhandlungen beim Rahmenabkommen.

  • Die EU betrachtet die Verhandlungen als abgeschlossen, die Schweiz nicht.

7. Dezember 2018 Der Bundesrat startet eine öffentliche Konsultation zum Rahmenabkommen.

  • Damit verschafft er sich Zeit, um eine politische Mehrheit fürs Abkommen hinter sich zu scharen.

7. Juni 2019 Nach Abschluss der Konsultation erklärt der Bundesrat gegenüber der EU Klärungsbedarf in drei Punkten des Rahmenabkommens.

  • Aus Sicht Brüssels ist aber das Maximum der Zugeständnisse an die Schweiz schon erreicht.

18. Juni 2019 Die EU beschliesst, die sogenannte Börsenäquivalenz nicht zu verlängern – eine administrative Massnahme, die dem Börsenplatz Schweiz schadet.

  • Eine rein technische Frage wird von der EU politisch aufgeladen. Aus Sicht des Bundesrats kommt das einem Erpressungsversuch gleich.

27. September 2020 Das Stimmvolk lehnt die Begrenzungsinitiative mit 61.7 Prozent ab.

  • Mit ihr wollte die SVP die wortgetreue Umsetzung ihrer Masseneinwanderungsinitiative von 2014 erzwingen.

14. Oktober 2020 Der Bundesrat ernennt Livia Leu zu seiner neuen Chefunterhändlerin gegenüber der EU.

  • Leu ist innert vier Jahren die fünfte Person auf diesem Posten.

26. Mai 2021 Die Schweiz bricht die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen ab.

  • Im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU ist der vorläufige Tiefpunkt erreicht. Die Ansichten, wie es weitergehen soll, liegen meilenweit auseinander.

Datenquellen und Methodik

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  • Datenquelle für die Grafiken sind die Nachwahlbefragungen der Wählerinnen und Wähler im Rahmen der Selects-Studien 1995 bis 2019 .
  • Berücksichtigt wurden Personen, die jeweils an den Wahlen 1995 bis 2019 teilgenommen haben.
  • Die Gewichtungsvariablen in den Selects-Datensätzen unterscheiden sich teilweise. Für die Wahlen 2007 bis 2019 wurde jeweils das Gesamtgewicht (Studiendesign, Wahlteilnahme und Wahlentscheid) verwendet. Für die Wahlen 1995 bis 2003 stehen zwar auch Gewichte zur Verfügung, die auch verwendet wurden, diese sind jedoch weniger gut dokumentiert. Diese Daten sind deshalb vorsichtig zu interpretieren.
  • Die Datenanalyse hat Smartvote im Auftrag von SRF vorgenommen.

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Legende: srf

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SRF 4 News, 23.09.2022, 6:00 Uhr, srf/sper

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