Geht es nach Sibylle Wälty, könnten in der Schweiz locker 16 Millionen Menschen wohnen – und dies bei gleichbleibender Lebensqualität. «Laut unserem Modell wäre dies innerhalb des heutigen Siedlungsgebiets möglich», so die Raumentwicklungs-Forscherin der ETH Zürich.
Ihr Konzept: Netzwerke sogenannter 10-Minuten-Nachbarschaften. An Zentrumslagen sollen mehr Menschen leben – was gleichzeitig Verkehrsprobleme reduzieren und die Zersiedelung eindämmen würde.
Dichte urbane Hotpots
«In 10 Minuten zu Fuss muss alles erreichbar sein, was man im Alltag braucht: Bäckerei, Supermarkt, Coiffeur, Bahnhof, Café, Restaurants, Park und Kindergarten», so Wälty. «Und im Idealfall auch die Arbeit.»
Schon heute gebe es solche 10-Minuten-Nachbarschaften: Etwa das Quartier um den Ida-Platz in Zürich oder die Rue Dancet in Genf. «Die Rue Dancet ist die wohndichteste 10-Minuten-Nachbarschaft der Schweiz mit 21’000 Einwohnenden und 10’000 Vollbeschäftigten.»
Vorbilder einer 10-Minuten-Nachbarschaft
Sibylle Wälty hat ermittelt, dass es für eine funktionierende 10-Minuten-Nachbarschaft mindestens 10'000 Einwohnerinnen und Einwohner in einem Radius von 500 Metern braucht und mindestens 5000 Arbeitsplätze. Denn mit genug Menschen auf kleinem Raum entstehe eine Stadt in der Stadt, und das sei attraktiv. «Je mehr Leute dort wohnen, desto mehr entsteht ein vielfältiges und von zureisenden Konsumentinnen und Konsumenten unabhängiges Angebot.»
Hochhäuser an Verkehrsknoten
Um solche Nachbarschaften zu schaffen, müsste konsequent verdichtet werden. Das bedeute nicht zwingend Hochhäuser, sagt Sibylle Wälty. «Sieben bis acht Stockwerke können schon vieles verbessern.» Sie nennt etwa das Berner Breitenrain- oder das Basler Matthäus-Quartier, die ebenfalls schon funktionierende 10-Minuten-Nachbarschaften seien. In Paris oder Barcelona allerdings lebten nochmals vier bis fünf Mal mehr Leute auf derselben Fläche.
«Sieben bis acht Stockwerke können schon vieles verbessern.»
Besonders, wo der Boden beschränkt ist, kommen Hochhäuser ins Spiel. Sie sind laut Wälty aber nur da sinnvoll, wo schon eine sehr gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr besteht. «Wenn man auf dem Land draussen ein Hochhaus hinstellt, zieht man damit zwar viele Personen an, die dann aber aufs Auto oder den ÖV angewiesen sind. So entstehen nicht nur Kosten für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, sondern auch zusätzlicher Stau und vollgestopfte Züge.»
Wohnungen bauen, wo gearbeitet wird
Zentral sei in der Raumplanung, dass Städte nicht nur Arbeitsplätze schafften, sondern daran gekoppelt auch den entsprechenden Wohnraum. «Wir brauchen dort mehr Einwohnende, wo es heute schon viele Arbeitsplätze und Freizeitangebote gibt.»
Sibylle Wälty nennt ein Beispiel: «Wenn Google in Zürich 1000 Arbeitsplätze schafft, entstehen dadurch weitere 5000 Arbeitsplätze, denn die neuen Mitarbeitenden brauchen Dienstleistungen wie Reinigung, Gesundheitsversorgung, Gastronomie oder Detailhandel.»
Für all diese Leute müsste in der Nähe auch Wohnraum gebaut werden, um zusätzlichen Verkehr zu vermeiden. Dann könne die Verdichtung gelingen – «ressourcenschonend und mit gleicher oder sogar besserer Lebensqualität.» Theoretisch könnte die Schweiz so bis zu 16 Millionen Menschen ein Zuhause bieten.