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Debatte um 9-Millionen-Schweiz «Einsamkeit ist das grösste Problem, nicht die Wohnungsnot»

Dieses Jahr werden in der Schweiz 9 Millionen Menschen leben. Was bringt uns das Wachstum: mehr Wohlstand oder eine Verringerung der Lebensqualität?

Die Bevölkerung in der Schweiz wächst rasant und weit stärker als in den Nachbarländern. Im Jahr 2022 wuchs die ständige Wohnbevölkerung um bis zu 80'000 Personen.

Hinzu kommen ca. 20'000 Asylsuchende sowie ca. 70'000 Personen mit Schutzstatus S aus der Ukraine. Macht insgesamt ein Bevölkerungswachstum von rund 170'000 Menschen.  

Für SVP-Nationalrat Mike Egger ist die Rechnung einfach: «Mehr Menschen brauchen mehr Ressourcen.» Sei es beim Stromverbrauch, den Emissionen oder dem Lebensmittelverbrauch.

Das seien gewaltige Herausforderungen: «Wenn wir das nicht vernünftig steuern, kommt es nicht gut für die Schweiz», warnt Egger. Er feilt am Text einer Volksinitiative, die ein unbegrenztes Bevölkerungswachstum verhindern will.

Die Zuwanderung zu begrenzen, heisse auf Wohlstand zu verzichten, kontert SP-Nationalrätin Mattea Meyer: «Ohne diese Arbeitskräfte müssten viele Spitäler, Baufirmen und Kitas längst schliessen.» Der Grund: Die Schweiz habe ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

«Wir haben zu wenig Pflegepersonal ausgebildet, haben immer noch eine schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mit zu wenig bezahlbaren Kita-Plätzen.»

Die Schweiz wird zum Seniorenstaat

Für Thomas Kessler, den ehemaligen Integrationsbeauftragen und Städteplaner der Stadt Basel, wird die momentane Diskussion um Demografie und Einwanderung falsch geführt: «Wir wachsen nur bei den Rentnern und Rentnerinnen und den Betagten. Und wir haben immer weniger Kinder.»

Für Kessler ist nicht die 10-Millionen-Schweiz das Problem, sondern die 8-Millionen-Schweiz, weil die Bevölkerungszahlen wieder zurückgehen werden.

Momentan jedoch geht es in Richtung 9-Millionen-Schweiz, die Gesamtwirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Bundesrat und Wirtschaftsverbände argumentieren seit Jahrzehnten: Wachstum bringe nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Bevölkerung etwas.

Für Ökonom Mathias Binswanger bringt Wachstum summarisch betrachtet keine zusätzliche Lebensqualität: «Rechnet man das Wachstum pro Kopf aus, wird es relativ gering. Wachstum ist mit steigenden Wohnungspreisen verbunden, in verdichteten Städten verschlechtert sich die Wohnungssituation.»

Binswanger ist auch Glücksforscher: «Den Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen in hochentwickelten Ländern wie der Schweiz gibt es nicht mehr.» Wirtschaftswachstum führe nicht mehr dazu, dass Menschen im Durchschnitt glücklicher würden.

Schweizerinnen und Schweizer haben pro Person im Durchschnitt 46.6 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung. Binswanger: «Durch die Zuwanderung gibt es zwei Varianten: entweder mehr Verdichtungsghettos oder mehr Zersiedelung.» Beides mache den Menschen nicht glücklich.

10-Millionen-Schweiz ist kein Problem

Integrationsexperte Thomas Kessler geht noch weiter. Jede zweite Familienwohnung ist heute mit einer Einzelperson besetzt. Das könne man sich heute leisten. «Aber der Mensch wird heute nicht glücklicher, er wird depressiv. Einsamkeit ist das grössere Problem als die sogenannte Wohnungsnot.»

Der Mensch sei ein soziales Wesen, nicht Alleinsein, sondern Gemeinschaft mache glücklich. Er plädiert für Wohnmodelle, bei denen man wieder zusammenkommt. Das spare Platz und fördere das Wohlbefinden. Und so finden für den ehemaligen Städteplaner in der Schweiz auch 10 Millionen Menschen Platz.

Club, 07.02.2023, 22:25 Uhr

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