- Das Tessin schrumpft: Vor allem jüngere Menschen zwischen 20 und 40 Jahren verlassen vermehrt den Kanton.
- Menschen mit italienischen Wurzeln und Aufenthaltsbewilligung B gehen nach Italien.
- Im Tessin Geborene dagegen gehen nach Norden, vor allem in die Deutschschweiz.
«Von denen, die das Tessin verlassen, sind diejenigen mit einer tertiären Ausbildung, also mit Universitätsabschluss, übervertreten. Diese Menschen arbeiten in intellektuellen, wissenschaftlichen Branchen – und meist 100 Prozent», sagt Francesco Giudici, der beim kantonalen Statistikamt in Bellinzona arbeitet.
Im Moment gehe ich für die Wochenenden und Ferien ins Tessin, um Fahrrad zu fahren und Freunde zu treffen.
Es sind junge Tessinerinnen und Tessiner wie Mattia Bachhetta, die dem Heimatkanton den Rücken kehren. Der 27-Jährige hat an der ETH Zürich Mathematik studiert und arbeitet seither für grosse internationale Finanzdienstleistungsinstitute, aktuell in Zug. Und das ändere sich so schnell nicht, sagt er: «Es gibt so viele gute Jobmöglichkeiten in der Deutschschweiz. Im Moment gehe ich für die Wochenenden und Ferien ins Tessin, um Fahrrad zu fahren und Freunde zu treffen.»
Mattia war während seines Studiums in einer Tessiner Studentenverbindung aktiv. Dort hat er beobachtet, dass es zwei Gruppen von gut ausgebildeten Tessinern gibt: «Die eine Gruppe geht nach dem Studium direkt zurück ins Tessin. Das sind Leute, die zum Beispiel Recht oder Medizin studiert haben und ihre eigene Praxis eröffnen wollen. Dann gibt es Leute wie mich, die im Moment noch in der Deutschschweiz bleiben wollen, weil es hier mehr Möglichkeiten gibt.»
Der 27-Jährige geniesst die Internationalität des Grossraums Zürich. «Man atmet diese offene Mentalität ein. Das ist ein wichtiger Punkt für junge Leute. Im Tessin haben die Menschen vielleicht noch ein bisschen Angst vor Internationalität. Ich denke aber, es ist für das Tessin sehr wichtig, mit der ganzen Schweiz viel Kontakt zu haben und auch zu versuchen, ein Umfeld mit internationalen Firmen zu schaffen.»
Tessin ergreift Massnahmen
Junge, gut ausgebildete Menschen haben schon immer den kleinen Kanton verlassen, um neue Erfahrungen zu sammeln. Aber in den letzten Jahren stellen die Statistiker eine verstärkte Auswanderung fest. Statt jährlich 2000 kehren neuerdings fast 3000 Menschen dem Kanton den Rücken, weil sie in einen anderen Schweizer Kanton abwandern.
Das beschäftigt Tessins Wirtschaftsdirektor Christian Vitta: «Wir haben diverse Strategien erarbeitet, um diesem negativen Trend etwas entgegensetzen zu können.» Dazu gehöre, jungen Menschen finanzielle Unterstützung zuzusichern, wenn sie im Tessin Start-ups gründen. Oder dafür zu sorgen, dass Tessiner Unternehmen den Tessiner Studenten Praktika anbieten.
Die Tessiner Wirtschaftsfachleute promoten die Innovationskraft ihres Kantons. Tatsächlich ist im Südkanton in den letzten Jahren viel gegangen. Der Pharma-Sektor etwa wächst stark. Auch wird sich der Kanton und seine Position in der Schweizer Wirtschaftswelt durch die beiden Jahrhundertbauprojekte des Gotthard- und Ceneri-Tunnels verändern. Man ist künftig deutlich schneller von Lugano in Zürich.
Es besteht das Risiko, dass das Tessin zu einem reinen Transitraum verkommt.
Aber eben auch von Zürich in Mailand, wie Vitta betont. Dies sei für seinen Kanton gefährlich: «Es besteht das Risiko, dass das Tessin zu einem reinen Transitraum verkommt. Das müssen wir mit aller Macht verhindern. Darum sind wir in der letzten Zeit diverse Partnerschaften mit dem Norden der Schweiz eingegangen.» Berührungsängste werden abgebaut, müssen abgebaut werden. So erst kann das innovative Klima entstehen, das gut ausgebildete junge Menschen in den Heimatkanton zurücklockt.