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Aerosole als Pandemie-Treiber «Sitzt man im Luftzug einer Lüftung, kann das ein Nachteil sein»

240 Wissenschafter fordern die WHO auf, Aerosole als Ansteckungsweg mehr zu beachten. Einer von ihnen ist André Prévôt.

Der Schweizer Atmosphärenforscher und Aerosol-Experte André Prévôt hat zusammen mit 239 Wissenschaftern einen Aufruf an die WHO unterzeichnet. Darin werfen sie den Gesundheitsbehörden und der WHO vor, in ihren Empfehlungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie das Ansteckungsrisiko durch kleinste Teilchen in der Luft, sogenannte Aerosole, zu vernachlässigen.

Die Wissenschaftler schreiben, Studien liessen kaum Zweifel daran, dass sich das Virus Sars-CoV-2 genauso wie bereits erforschte verwandte Viren durch winzigste Tröpfchen in der Luft verteile. André Prévôt hat sich unseren Fragen zu den Aerosolen gestellt.

André Prévôt

Aerosol-Experte am Paul Scherrer Institut

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André Prévôt ist Atmosphärenforscher und Aerosol-Experte am Paul Scherrer Institut, dem grössten Schweizer Forschungsinstitut für Natur- und Ingenieurwissenschaften. Er studierte Physik an der ETH Zürich und hat einen Doktortitel in Naturwissenschaften.

SRF: Stefan Kuster vom BAG sagte: «Aerosole sind kein riesiger Treiber der Pandemie, sonst hätten wir gerade in Clubs viel mehr Infizierte.» Was sagen Sie dazu?

André Prévôt: Ich würde sagen, es ist noch offen, wie viele Ansteckungen welchen Weg gehen, ob es also vor allem über Tröpfchen oder über Aerosole geht, das ist derzeit noch unklar. Es gibt aber Indizien, dass trotz genügendem Abstand Ansteckungen vorkommen, beispielsweise in Restaurants oder über die Klimaanlagen auf Kreuzfahrtschiffen, wo sich viel mehr Leute ansteckten, als man bei einer Tröpfchenübertragung erwarten würde. Aerosole bleiben auch viel länger als Tröpfchen in der Luft.

Was ist der Unterschied zwischen Aerosolen und Tröpfchen?

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Aerosole sind kleinste Partikel, die beim Niesen und Husten, aber auch beim Singen und Sprechen entstehen. Mit einem Durchmesser von weniger als fünf Mikrometer verhalten sie sich in der Luft anders als die grösseren Tröpfchen, die als Hauptüberträger des Coronavirus gelten.

Aerosole sind viel leichter als Tröpfchen und fallen daher langsamer zu Boden. Sie können wohl bis zu 20 Minuten in der Luft schweben. Faktoren für die Verweildauer in der Luft sind neben der Grösse unter anderem auch Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Japanische Forschende konnten in einem Experiment dank Laserlicht zeigen: Die Aerosole bilden beim lauten Sprechen eine Art Wolke, die in der Luft hängenbleibt. Im Umkreis von ein bis zwei Meter um eine Person herum, muss man damit rechnen, Tröpfchen und Aerosolen ausgesetzt zu sein.

Bei der Übertragung des hochansteckenden Masernvirus spielen Aerosole eine wichtige Rolle. Beim Coronavirus ist hingegen noch nicht restlos geklärt, ob und wie häufig die Aerosole tatsächlich zu Ansteckungen führen. Wie das deutsche Robert Koch Institut in einer Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands schreibt, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Übertagung durch Aerosole auch über eine grössere Distanz als zwei Meter in kleinen, schlecht belüfteten Räumen und bei lautem Sprechen oder Singen. Unlängst haben 239 Wissenschafter in einem offenen Brief die WHO aufgefordert, den Aerosolen als Übertragungsweg des neuen Coronavirus mehr Beachtung zu schenken.

Ist das beim Coronavirus speziell im Vergleich zu anderen Viren?

Es ist ähnlich wie bei anderen Viren. Sars-CoV-2 ist ähnlich gross wie Feinstaubpartikel, wie etwa Russ, es kann darum sehr weit getragen werden. In der Aussenluft werden die Aerosole sehr stark verdünnt, so dass das ähnlich wie beim Verkehr kein grosses Problem darstellt. In der Innenluft sieht das anders aus, da ist die Konzentration höher und da können diese Aerosole eben relevant sein.

Was man aber tun kann: die Räume sehr, sehr gut lüften.

Was kann man dagegen tun? Wir gewöhnen uns ja nun daran, in heiklen Situationen Masken zu tragen – helfen diese gegen Aerosole?

Sie helfen, aber in geringerem Masse als gegen Tröpfchen. Diese werden ja von den Masken sehr gut abgeschieden. Von den sehr kleinen Partikeln kann jedoch ein Teil durch die Maske nach aussen oder nach innen gelangen. Da ist man also nicht vollkommen geschützt. Was man aber tun kann: die Räume sehr, sehr gut lüften. Dann verringert sich die allfällige Virenkonzentration in der Luft sehr schnell.

Lüften ist also das wichtigste, um der Gefahr der Aerosole zu begegnen?

Ja, lüften ist sehr gut. Man kann die Luft auch aktiv durch Filter leiten und so die Viren aus der Luft ziehen, wie das teilweise in China und Indien mit Feinstaub gemacht wird. Das wäre eine mögliche technische Lösung. Aber Lüften ist sicher das einfachste, wenn man Fenster überhaupt öffnen kann. Ansonsten kann es sich auch lohnen, das Lüftungssystem zu analysieren, vor allem dort, wo es viele Leute hat, zum Beispiel im öffentlichen Verkehr oder in Grossraumbüros.

Sind Klima- und Lüftungsanlagen also ein Risiko?

Gelangt die Luft über die Lüftung von einem Raum in den anderen, ist das natürlich ungünstig. Wird die Luft von der Anlage gefiltert, ist das sicher besser, so können auch Partikel herausgefiltert werden. Sitzt man im Luftzug einer Lüftung, kann das ein Nachteil sein.

In Flugzeugen sind viele Leute lange gemeinsam in einem Raum. Wie gross ist das Risiko dort?

Soviel ich weiss, wird die Luft in Flugzeugen relativ effizient gefiltert. Wie gut das effektiv ist, wäre sicher eine genauere Untersuchung wert.

Das Gespräch führte Arthur Honegger.

10vor10, 09.07.2020, 21:50 Uhr ; 

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