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Alleinstehende ohne Lobby Die geschröpften Singles

Früher nannte man sie «Ledige» oder «Alleinstehende». Neudeutsch heissen sie Singles: Menschen, die nicht in festen Partnerschaften leben und keine Kinder haben. Von ihnen gibt es heute rund doppelt so viele wie noch in den 1970 Jahren: In mehr als einem Drittel der Schweizer Haushalte lebt aktuell nur noch eine Person. Eine genaue Statistik zu den Singles gibt es in der Schweiz allerdings nicht.

Doch obwohl Singles eine immer grössere Gruppe darstellen, haben sie kaum Gewicht. Denn ihnen fehlt die Lobby. Entsprechend haben Singles in vielen Bereichen das Nachsehen, etwa bei den Steuern, der Altersvorsorge oder beim Erben.

Ohne politisches Gewicht

Dass Singles keine Lobby haben, liegt vermutlich an zwei Dingen: Zum einen gibt es im Parlament selbst nur wenige Singles: Vier von fünf Politikern und Politikerinnen sind verheiratet oder leben im Konkubinat. Da bleibt für die Singles nicht viel übrig. Zum anderen lassen sich mit Familienpolitik mehr Wählerstimmen gewinnen als mit Single-Politik.

In der Politik haben Singles also einen schweren Stand. In der Bevölkerung wiederum herrscht ein diffuses Bild vor: Die einen glauben, den Singles ginge es besser, weil sie nicht teilen, für niemanden sorgen und weniger Steuern zahlen müssten. Die anderen glauben, die Singles seien benachteiligt, weil sie vieles mitfinanzieren müssten, von dem sie nicht profitierten, wie Infrastruktur für Familien.

Singles: Profiteure oder Benachteiligte?

Was stimmt? Eine, die es wissen muss, ist die Präsidentin des Vereins Pro Single Schweiz: Silvia Locher, ehemalige kaufmännische Angestellte und Bewegungstherapeutin, engagiert sich seit 20 Jahren für die Singles. Silvia Locher hat soeben ein Buch herausgegeben, mit dem Titel: «Singles ohne Kinder – tragende Säulen der Gesellschaft». Darin hat die Autorin Fakten und Zahlen zur finanziellen Benachteiligung von Singles zusammengetragen.

Im Gespräch mit Radio SRF erzählt Silvia Locher, was sie im Alltag am meisten stört: «Haushaltsgebühren wie die Radio- und TV-Gebühren, bei denen ein Einpersonenhaushalt überproportional zur Kasse gebeten wird. Oder die Vergünstigungen im öffentlichen Verkehr oder bei Mitgliedschaften, die es fast immer nur für Paare oder Familien gibt.»

Dass Singles höhere Steuertarife als Verheiratete zahlen, ist vielen nicht bewusst.
Autor: Silvia Locher Präsidentin Verein Pro Single Schweiz

Gemäss Zahlen der OECD liegen die Ausgaben für Mehrpersonenhaushalte zwar über denen von Einpersonenhaushalten – aber nicht linear. So hat ein Haushalt mit vier Köpfen 2.1 mal so hohe Ausgaben wie ein Einpersonenhaushalt – aber eben nicht vier Mal höher. Was auch logisch ist: Man braucht zu viert zwar eine grössere Wohnung, aber man braucht nicht vier Wohnungen. Und viele Kosten kann man durch vier teilen.

Niemand spricht von der Singlestrafe

Sauer stösst der Präsidentin des Vereins Pro Single Schweiz auch die steuerlichen Ungerechtigkeiten auf. «Alle reden immer von der Heiratsstrafe für Verheirate versus Konkubinatspartner. Dass Singles höhere Steuertarife zahlen, ist vielen nicht bewusst.»

Vor allem bei den Bundessteuern schenkt dies ein: Während die Hälfte aller Familien Null Franken Bundessteuern zahlt, liefern Singles bereits ab 23'000 Franken Brutto-Jahreseinkommen Geld an die Staatskasse ab – ein Einkommen, das sogar unterhalb der Armutsgrenze von 27'000 Franken liegt.

Gleichzeitig profitieren Singles indirekt aber davon, dass in Familien Gratisarbeit geleistet wird.
Autor: Jérôme Cosandey Sozialversicherungsspezialist Avenir Suisse

Auch bei den Erbschaftssteuern werden die Singles geschröpft: Je nach Wohnort liefern Begünstigte bis zur Hälfte des Vermögens ab, wenn sie Kapital von einem Single nach dessen oder deren Tod bekommen. Darunter würden aber nicht nur die Singles leiden, entgegnet der Sozialversicherungsspezialist Jérôme Cosandey von Avenier Suisse. Sondern alle, die ausserhalb der Familie Geld vererben – also auch Konkubinatspartner. Nur wer innerhalb der Familie vererbt, wird heute vom Steuervogt privilegiert.»

Cosandey stellt die Ungleichbehandlung grundsätzlich in Frage. «Dass der Staat noch einmal die hohle Hand macht, wenn Vermögen von einer Person auf eine andere übertragen werden, ist angesichts der bereits bezahlten und weiterhin anfallenden Vermögenssteuer sowieso fragwürdig.»

Bei AHV-Renten benachteiligt

Ärgern tut sich Silvia Locher noch über etwas weiteres: Die finanziellen Nachteile für Singles bei AHV und Pensionskasse. «Bei beiden Säulen finanzieren wir Hinterlassenenrenten mit, von denen wir selber nie profitieren,» sagt die Präsidentin von Pro Single Schweiz.

In der Tat zahle die AHV jährlich 1.8 Milliarden Franken Hinterlassenenrenten aus, von denen Singles oder deren Umfeld selber nichts hätten, sagt auch Cosandey von Avenir Suisse. «Gleichzeitig profitieren Singles indirekt aber davon, dass in Familien Gratisarbeit geleistet wird, in dem Kinder aufgezogen werden, die später erwerbstätig sind, AHV-Beiträge zahlen und so AHV-Altersrenten über Generationen gezahlt werden können», gibt Cosandey zu bedenken.

Gerade für alleinstehende Frauen aber, die ein Leben lang gearbeitet und in die AHV einbezahlt haben, ist es bitter festzustellen, dass nur 13 Prozent von ihnen eine volle AHV-Rente beziehen – während die Hälfte aller Ehefrauen, die nie selber AHV-Beiträge bezahlt haben, dank der Witwenrente eine volle AHV-Rente haben – weil diese auf dem Lohn ihres verstorbenen Ehegattens beruht, der gut verdient hat.

Am besten sichtbar ist der finanzielle Nachteil, den Singles erdulden, aber in den Pensionskassen. Geschätzte 500 Millionen Franken pro Jahr werden Pensionskassen (und den anderen Versicherten) dadurch «geschenkt», dass Singles sterben und keine begünstigten Partner hinterlassen. Pensionskassen reden in diesem Zusammenhang von «Abwicklungsgewinnen», die sie beim Tod von Singles erzielen.

Singles würden höhere Renten zustehen

Versicherungsmathematisch müssten Pensionskassen den Singles höhere Renten auszahlen, als Paaren, bei denen die Pensionskasse irgendwann eine Witwen- oder Witwer-Rente zahlen muss. Und solche Kassen gibt es bereits, auch wenn sie noch rar sind.

Die Zürcher BVK zum Beispiel zahlt Singles seit 2019 höhere Renten aus – wenn sie es wollen. Das Angebot werde sehr gut genutzt, sagt der Chef der BVK, Thomas Schönbächler: «Ein Drittel der Versicherten hat sich 2019 für die höhere Singlerente entschieden – und dafür auf den Anspruch auf Hinterlassenenleistungen verzichtet. Bei den Frauen sind es sogar 41 Prozent.»

Die Beispiele zeigen: Unberechtigt ist die Klage der Singles, geschröpft zu werden, nicht. Steuer- und Sozialversicherungssysteme basieren auch heute noch zu grossen Teilen auf dem Modell der Ehe beziehungsweise der Familie. Obwohl es mittlerweile zig andere Lebensformen und -entwürfe gibt. Reformbedarf wäre da – aber eben keine Lobby, die sich dem annimmt.

Trend, Radio SRF 1, 05.06.2020, 08:13; fulu

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