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Anhaltende Proteste in Iran Sibel Arslan: «Schweiz muss handeln statt nur verurteilen»

Das iranische Regime schlägt die Proteste im Land brutal nieder. Je nach Quelle soll es bislang zwischen 40 und 70 Tote gegeben haben. Nun fordert eine Gruppe von sechs Nationalrätinnen von SP bis FDP: Die Schweiz solle klar Stellung beziehen. Eine von ihnen ist Sibel Arslan von der Grünen-Fraktion. Sie verlangt, dass die Schweiz auch allfällige EU-Sanktionen gegen Teheran mitträgt.

Sibel Arslan

Nationalrätin, Grüne Fraktion

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Sibel Arslan politisiert seit 2015 im Nationalrat und ist Mitglied der Aussenpolitischen Kommission der Grossen Kammer.

SRF News: Aussenminister Ignazio Cassis hat dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi letzte Woche seine Besorgnis über die Menschenrechtslage in Iran mitgeteilt. Warum reicht Ihnen das nicht?

Sibel Arslan: Ich bin froh darüber, dass unser Bundesrat seine Besorgnis mitgeteilt hat. Doch die Menschenrechtsverletzungen nehmen kein Ende, der Druck auf Frauen und die Opferzahlen steigen weiter. Die Schweiz hat mit ihrem Schutzmachtmandat eine spezielle Rolle inne. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns einerseits klar positionieren – und andererseits nicht indirekt zum Komplizen des Iran werden.

Präsident Raisi: «Toleranzschwelle bezüglich Kritik erhöhen»

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Raisi während einer Ansprache.
Legende: Der iranische Präsident Ebrahim Raisi. Keystone/Iranisches Präsidialbüro

Angesichts der andauernden Proteste im Iran hat Präsident Ebrahim Raisi erstmals versöhnliche Töne angestimmt. «Ich habe schon immer gesagt, dass wir unserer Toleranzschwelle bezüglich Kritik und auch Protesten erhöhen sollten», sagte Raisi. Der Weg dahin ist laut Raisi offen, man könnte im Land dazu auch Zentren für Diskussionen eröffnen. «Auch die Umsetzung der Gesetze könnte reformiert und revidiert werden. Dies würde dem Land sogar nützen», sagte der Kleriker in einem Live-Interview des Staatssenders Irib. Er liess jedoch offen, welche Gesetze revidiert werden könnten und ob auch islamische Gesetze wie das Kopftuchverbot dazu gehören.

Auslöser der Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Die Sittenpolizei hatte sie wegen ihres angeblich «unislamischen Outfits» festgenommen. Was genau mit Amini nach ihrer Festnahme geschah, ist unklar. Die junge Frau war ins Koma gefallen und am 16. September in einem Krankenhaus gestorben. Kritiker werfen der Moralpolizei vor, Gewalt angewendet zu haben. Die Polizei weist die Vorwürfe entschieden zurück. Seitdem demonstrieren landesweit Tausende Menschen gegen den repressiven Kurs der Regierung. (sda)

Die EU denkt über Sanktionen gegen Iran nach. Sie fordern, dass die Schweiz diese dann auch mittragen soll. Wieso sollte sich die Schweiz hier als neutrales Land exponieren?

Wir Grüne vertreten diese Meinung. Wir haben mit sechs Kolleginnen aus unterschiedlichen Parteien eine Interpellation mit verschiedenen Fragestellungen eingereicht. Für uns als Grüne ist wichtig, dass man Sanktionen erlässt. Die Schweiz setzt sich immer wieder für Menschenrechte ein und geniesst diesbezüglich weltweit Glaubwürdigkeit.

Wenn wir nur verurteilen, aber nicht handeln – dann machen wir uns indirekt zum Komplizen des Iran.

Bei Verletzungen der Menschenrechte muss sich die Schweiz als humanitäres Land klarer positionieren. Deshalb ist es wichtig, dass man zum Beispiel den iranischen Botschafter einbestellt. Ihm könnte man mitteilen, dass das arabische Hijab-Gesetz dazu führt, dass die Schweiz ihr Schutzmachtmandat vielleicht nicht mehr wie bis anhin ausführen kann.

Iran ist schon seit vielen Jahren stark sanktioniert und international isoliert. Das Land kämpft mit starken wirtschaftlichen Problemen. Trotzdem hat sich das Regime verhärtet. Ist das Land nicht das Paradebeispiel, dass Sanktionen nicht das gewünschte Ergebnis bringen?

Tatsächlich treffen Sanktionen oft auch die Bevölkerung. Deshalb müssen sie mit Bedacht eingesetzt werden. Wenn wir aber ganz auf Sanktionen verzichten, ignorieren wir damit auch, dass sehr viele Frauen und Angehörige von Minderheiten auf die Strasse gehen. Sie wissen, dass sie sterben könnten – und protestieren trotzdem. Die internationale Solidarität zeigt ihnen, dass sie nicht alleine gelassen werden. Zudem schmerzen Sanktionen auch die Regierung. Wenn nichts passiert, lässt man diese mutigen Menschen alleine.

Aussenminister Cassis 2020 mit dem damaligen iranischen Präsidenten Hassan Rohani in Teheran.
Legende: Die Schweiz nimmt mit ihrem Schutzmachtmandat die Interessen der USA in Iran wahr und stellt sicher, dass die beiden Länder trotz abgebrochener diplomatischer Beziehungen kommunizieren können. Im Bild: Aussenminister Cassis 2020 mit dem damaligen iranischen Präsidenten Hassan Rohani. Keystone/AP

Der Abteilungsleiter für Frieden und Menschenrechte im Aussendepartement spricht vom «Kronjuwel» unter den Schutzmachtmandaten. Mit Ihren Forderungen an den Bundesrat stellen sie dieses infrage. Warum wollen Sie das einfach aufgeben?

Dieses Schutzmachtmandat kann in der Tat als Kronjuwel gelten. Es ist ein Symbol der Guten Dienste. Wenn wir uns aber nicht prioritär für die Menschenrechte einsetzen, wenn wir nur verurteilen, aber nicht handeln – dann machen wir uns indirekt zum Komplizen des Iran. Wir sollten glaubwürdige Aussenpolitik machen. Deswegen muss die Frage gestellt werden, ob dieses Schutzmachtmandat derzeit noch zu rechtfertigen ist.

Das Gespräch führte Nina Gygax.

Heute Morgen, 29.09.2022, 6:18 UHr ; 

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