Dass die Tessiner immer den Kürzeren ziehen, könne man so nicht sagen. Historisch gesehen sei das Tessin gar eher übervertreten, sagt Politikwissenschafter Georg Lutz von der Universität Lausanne. Was die Vertretung in der Landesregierung angehe, gebe es seit der Gründung des modernen Bundesstaates «Lücken vor allem in der Nordwestschweiz und teilweise auch in der Zentralschweiz».
Platz 6 in der ewigen Bundesrats-Tabelle
Das Tessin hingegen war seit 1848 während 78 Jahren im Bundesrat vertreten. Nur fünf Kantone hatten noch länger mindestens einen Vertreter in der Landesregierung. Allerdings: Platz sechs in dieser Tabelle hat viel mit Giuseppe Motta zu tun, der fast 30 Jahre in Bern mitregierte. Dies liegt allerdings schon lange zurück.
Der letzte Tessiner Bundesrat war Flavio Cotti – und der ist vor mittlerweile mehr als 18 Jahren zurückgetreten. Das ist der längste Unterbruch der Tessiner Vertretung im Bundesrat seit dem Ersten Weltkrieg und sicher mit ein Grund für die Ungeduld vieler Tessiner.
Diesmal scheint der Anspruch unbestritten
In den letzten Jahren gab es zwar immer wieder Tessiner Bundesratskandidaten, die blieben aber chancenlos. Doch jetzt, mit Ignazio Cassis, könnte es reichen für einen Tessiner Bundesrats-Sitz, sagt Politik-Experte Georg Lutz: «Die Stimmen, die einen Sitz für das Tessin gefordert haben, dieses mal von Anfang an sehr laut waren. Wenn man Zeitungen liest und Politikern zuhört, ist es eine weitverbreitete Meinung, der Anspruch sei berechtigt.»
Obwohl die Tessiner gerade einmal etwa vier Prozent der Schweizer Bevölkerung ausmachen, stösst die Forderung nach einem Bundesratssitz auf viel Verständnis. Gerade weil das Tessin eben nicht nur ein Kanton ist, sondern zusammen mit den Südbündner Tälern auch für die italienischsprachige Schweiz steht. Über die Nachfolge von Aussenminister Didier Burkhalter entscheidet die Vereinigte Bundesversammlung am 20. September.