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Aufwachsen im Rentnerparadies «Es ist tötelig hier»: Tessiner Jugendliche wollen eigene Räume

Nirgendwo in der Schweiz leben so viele Menschen im Pensionsalter wie im Tessin – das spüren vor allem die Jungen.

Sonnenstube, Sehnsuchtsort – und Rentnerparadies: Für Jugendliche ist das Tessin ein hartes Pflaster. Der Verein «Realtà Giovanili» findet, dass etwas getan werden muss: Die neu gegründete Jugendbewegung sammelt deshalb Unterschriften für mehr Freiräume, wo sich Jugendliche ohne Konsumzwang treffen können.

Rote Fabrik 1980 mit einem Konzert.
Legende: So etwas wie ein Jugendhaus – oder wie damals in den 1980er-Jahren die Rote Fabrik in Zürich (im Bild) – gibt es im Tessin nicht. Keystone / Photopress Archiv

Am Wochenmarkt in Bellinzona werben Aida, Jacobo, Laura und Emma um Unterschriften für ihre Petition. Emma steuert auf einen Händler zu, der Tessiner Spezialitäten verkauft. «Wir wollen das Tessin jünger und jugendlicher machen», sagt sie. «Jetzt ist es ja etwas ‹tötelig›.»

Der Händler nickt und nimmt den Unterschriftenbogen entgegen. Der gebürtige Italiener findet, dass die Schweiz eigentlich ein guter Ort für Junge sei. Aber: «Im Tessin ist leider der italienische Einfluss stark spürbar, auch angelehnt an Europa, wo die Jungen nicht gehört werden. Dabei sind sie wichtig, sie sind unsere Zukunft.»

Ein Ort nur für die Jungen

Emma spricht fast nur ältere Menschen an. «Das ist bezeichnend für Bellinzona und das ganze Tessin», sagt sie. Mit ihrer Petition fordern die Jugendlichen Räumlichkeiten, die sie dauerhaft oder mindestens für eine gewisse Dauer unentgeltlich nutzen können.

Dabei sei vor allem eines wichtig, sagt Laura: «Es gibt zwar schon Lokale und Orte für Junge, aber dort muss man zahlen und konsumieren. Wir wollen selbstverwaltete, autonome Orte, wo wir einfach sein und uns verwirklichen können.»

Jugendliche in Bellinzona
Legende: Die vier Tessiner Jugendlichen und jungen Erwachsenen werben in Bellinzona für ihr Anliegen – und stossen auf viel Verständnis, auch von den älteren Generationen. Iwan Santoro / SRF

Ein autonomes Zentrum wie etwa die Reitschule in Bern gibt es im Tessin nicht mehr. Das autonome Jugendzentrum in Lugano wurde vor vier Jahren über Nacht polizeilich geschlossen und abgerissen. Die Proteste verhallten ungehört.

Es müsse sich etwas bewegen, ist Aida überzeugt. «Deshalb ist unsere Petition so wichtig. Sie soll zeigen, dass uns die Bevölkerung unterstützt.»

Es ist langweilig. Ausser dem Markt am Samstag und der Fasnacht ist hier nie etwas los.
Autor: Nilde Einwohnerin von Bellinzona

Es läuft gut an diesem Samstag. Nilde unterschreibt sofort. Die Frau, Mitte 50, lebt seit 38 Jahren in Bellinzona. Für die Jungen laufe hier einfach nichts, sagt sie: «Es ist langweilig. Ausser dem Markt am Samstag und der Fasnacht ist hier nie etwas los.»

Dem stimmt auch die 21-jährige Hotelfachschülerin Elisa zu. Im Tessin sei man sehr auf Sport ausgerichtet. «Viele Junge machen Sport – aber wer sich dafür nicht interessiert, hat nichts. Man kann ja die Freizeit nicht nur in der Bibliothek hier verbringen.»

Rentner auf Bank in Lugano
Legende: Der italienischsprachige Kanton ist «älter» als der nationale Durchschnitt, mit einer Lebenserwartung, die sogar weltweit zu den höchsten gehört: 82.3 Jahre für die Männer und 86.6 Jahre für die Frauen. Keystone / Karl Mathis

Auch ein Teenagerpaar unterschreibt die Petition sofort. Die Siebzehnjährige findet das Engagement der Bewegung gut, denn Bellinzona sei ausgestorben. «Nach 17 Uhr ist hier nichts mehr los, es ist eine Geisterstadt – und dann beklagt man sich immer, die Jungen würden abwandern, aber man macht nichts dafür, dass sie hierbleiben.»

Braindrain aus dem Tessin

Genau das ist das Problem. Auch die vier Mitglieder von Realtà Giovanili studieren ausserhalb des Tessins, Emma in Luzern, die anderen drei in Lausanne.

Demografische Entwicklung in den Kantonen

Ob sie überhaupt wieder ins Tessin zurückkehren? Aida könnte es sich vorstellen, zuerst aber will sie nach dem Studium reisen. Auch der 28-jährige Jacobo lässt es offen: «Im Moment wäre es eher ein Muss als ein wirklicher Wunsch zurückzukehren.»

Nach dem Studium zurück ins Tessin oder nicht – vorerst geht es um ein anderes Ziel: ihre Petition. Diese wollen sie in den nächsten Monaten beim Kanton einreichen. Bis jetzt haben sie knapp 1500 Unterschriften gesammelt. Ein bisschen mehr sollten es doch noch sein, um Eindruck zu machen, meinen die Realtà-Giovanili-Mitglieder und sammeln weiter.

Rendez-vous, 15.4.2025, 12:30 Uhr; sten

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