Zum Inhalt springen

Ausbeutung in der Kita Krippen-Praktikantinnen als billige Arbeitskräfte

Das Wichtigste in Kürze:

  • 84 Prozent der Lehrlinge zur Fachperson Betreuung haben vor ihrer Lehre ein Praktikum gemacht.
  • Die grosse Mehrheit dieser Praktika dauert ein Jahr oder länger. Berufseinsteigerinnen sind benachteiligt.
  • Fachleute kritisieren diese Situation: Das Gesetz sehe vor, dass Jugendliche in der Regel nach dem Schulabschluss direkt in die Lehre einsteigen können.
  • Die Gewerkschaft Unia verlangt ein Verbot dieser Praktika vor der Lehre.
  • Der Verband der Kinderkrippen, Kibesuisse, warnt: Eine Abschaffung der Einstiegspraktika habe höhere Kosten für die Betreuungsplätze zur Folge.

«Ich war alleine mit einem Kind, das einen Gefühlsausbruch hatte. Ich wusste nicht, wie reagieren. Niemand war da, der mir helfen konnte.» So tönt Überforderung. Larissa Russo war 16, frisch ab der Schule, als sie als Praktikantin in einer Kinderkrippe anfing.

Ohne Erfahrung, aber mit viel Verantwortung, oft zu viel für die junge Praktikantin: «Danach ging ich auf die Toilette und weinte. Ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte.»

Ausgenützt als billige Arbeitskraft

Babysitterkurs und mehrere Schnuppertage hatte sie hinter sich. Das Praktikum nahm sie in Kauf für ihren Traumberuf in der Kinderkrippe: «Ein Praktikum mache sich gut, hat es geheissen. So habe ich grössere Chancen auf eine Lehrstelle.» Tritt fassen, Fachwissen erlernen: das wollte Larissa Russo. Stattessen wurde sie in ihrem Praktikum als billige Arbeitskraft ausgenutzt. Es fehlte an Ausbildung, es fehlte an Betreuung.

Auch die Hoffnung auf eine Lehre zerschlug sich. Eine Lehrstelle hat Larissa Russo nicht bekommen, wie vier andere Praktikantinnen derselben Kindertagesstätte auch nicht. Alle gingen in ein zweites Praktikumsjahr. «Ich finde es unfair, dass man im Praktikum funktionieren muss, wie eine Ausgelernte», sagt die heute 21-Jährige. Nach zwei Jahren Praktikum fand sie eine Lehrstelle als Fachfrau Betreuung Kind und damit den Einstieg in den Beruf.

Chat zum Thema «Praktikum»

Box aufklappen Box zuklappen

Vier Experten haben Ihre Fragen beantwortet. Das Protokoll

Nach der Schule: Praktikum statt Lehre

Ihre Geschichte ist kein Einzelfall. Das Problem ist länger bekannt, doch seit Kurzem liegen erstmals schweizweite Zahlen vor, die zeigen, wie stark verbreitet das Phänomen ist. Die Dachorganisation Savoirsocial geht aufgrund einer Umfrage davon aus, dass 84 Prozent der Lehrlinge vor der Lehre ein Einstiegspraktikum machen mussten.

Das betrifft auch Lehrlinge, die in Alters- oder Behindertenheimen ihre Ausbildung machen, die meisten Berufseinsteiger aber arbeiten in der Kinderbetreuung. Kommt hinzu: Die grosse Mehrheit dieser Praktika (83%) dauert ein Jahr oder noch länger.

Branche benachteiligt Berufseinsteiger

Beat Zobrist erhebt diese Zahlen für den Kanton Bern schon seit Jahren. Er leitet das Zentrum für Sozialberufe «Oda Soziales». Er erhält vor allem Anfragen von Eltern, die sich wundern, warum ihre Kinder zu Einstiegspraktika verknurrt werden.

Für ihn ist dies eine Zumutung für junge Leute, die sich für eine Lehre im Sozialbereich entscheiden: «Unsere Branche benachteiligt die Jugendlichen beim Einstieg ins Berufsleben. Das muss geändert werden. Das ist ein Beruf wie jeder andere auch. Man darf Jugendliche, die in den Sozialsektor wollen, nicht mit ein oder zwei Jahren Gratisarbeit bestrafen.»

Hunderte Jugendliche müssen ganz neu anfangen

Und: Die Zahlen von Savoirsocial umfassen nur jene Jugendlichen, die am Ende auch den Einstieg in den Beruf schaffen. Noch schlimmer ergeht es jenen, die jahrelang Praktika machen, ohne eine Lehrstelle zu bekommen: «Das sind allein im Kanton Bern schätzungsweise 200 junge Leute pro Jahr», sagt Beat Zobrist.

Er kennt den Frust dieser Jugendlichen, die nach mehreren Jahren Praktika in einer anderen Branche wieder neu anfangen müssen: «Ich meine, das ist nicht gerecht und nicht anständig gegenüber diesen Jugendlichen.» Seit Jahren kämpfe man im Kanton Bern dafür, dieses Praktikumswesen abzuschaffen.

Service:

Box aufklappen Box zuklappen

Kanton Bern kontrolliert Krippen verstärkt

Dabei ist Bern weiter als andere Kantone. Die Arbeitsmarktaufsicht des Kantons führt seit diesem Frühling verstärkt Kontrollen in Kinderkrippen durch. Die Vorgabe: Einstiegspraktika dürfen maximal sechs Monate dauern. Wenn die Krippe eine Lehrstelle garantiert, darf sie das Praktikum maximal um weitere sechs Monate verlängern. Ansonsten seien die Mitarbeiter als ungelernte Angestellte zu betrachten. Mindestlohn: 3000 Franken.

Beat Zobrist begrüsst diese Vorgaben. Aber auch das sei nur ein Zwischenschritt. Einerseits seien Wechsel in der Betreuung alle sechs Monate nicht wünschenswert, andererseits seien auch sechs Monate Praktikum nicht nötig: «Wir gehen immer noch davon aus, dass es möglich sein sollte, dass man ab Schulabgang eine Lehre machen kann. Fertig, Schluss!»

Gewerkschaft fordert ein Verbot

Die Gewerkschaft Unia geht weiter. Jugendsekretärin Kathrin Ziltener fordert im «Kassensturz»-Interview: «Solche Vorlehrpraktika müssen verboten werden.» Lehrstellensuchende bedürften eines besonderen Schutzes, oft kennen sie ihre Rechte nicht. Das Argument mit den höheren Kosten lässt sie nicht gelten: «Das Finanzierungsloch darf nicht auf dem Rücken der Jüngsten und Schwächsten ausgetragen werden.»

Der Verband Kinderbetreuung Schweiz Kibesuisse begrüsst das Ziel, Praktikumsstellen zu reduzieren. Kibesuisse hält aber fest, dass ein Verzicht auf Praktika hohe Mehrkosten zur Folge hätte. Und damit auch höhere Krippenbeiträge. Geschäftsführerin Nadine Hoch nimmt live im «Kassensturz» Stellung zur Kritik an den Praktika in Kinderkrippen.

Meistgelesene Artikel