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Berner Hausbesetzer-Prozess Besetzerkollektiv in fast allen Anklagepunkten freigesprochen

  • Gegen 20 Besetzerinnen und Besetzer hatten sich 2017 in einem Berner Gebäude verschanzt.
  • Bei der Hausräumung kam es zu Zusammenstössen: Das Kollektiv bewarf die Polizei mit schweren Gegenständen und zündete Feuerwerkskörper. Der Polizeitrupp antwortete mit Reizgas und Gummischrot.
  • Das Berner Regionalgericht hat nun alle Besetzenden in fast allen Anklagepunkten freigesprochen.

«Oh Du Fröhliche» nennt sich das Kollektiv, das 2017 ein leerstehendes Haus an der Berner Effingerstrasse besetzte. Sie verschanzten sich in den oberen Stock, verbarrikadierten die Zugänge. Das Kollektiv forderte Freiräume und demonstrierte gegen das knappe Wohungsangebot. Sie hätten «keine Lust mehr, immer teurere Mieten zu bezahlen» und wollten in einer solidarischen Gemeinschaft leben, liess das Kollektiv verlauten.

Mit Gewalt gegen die Räumung gewehrt

Als die Polizei an einem frühen Morgen im Februar 2017 anrückte, wurde sie von den Besetzenden mit Farbe, Ziegelsteinen, Geschirr und anderen Gegenständen aus den Fenstern der Liegenschaft beworfen.

Im Innern war das Treppenhaus verbarrikadiert, und die Besetzer sprühten die Einsatzkräfte mit Schaum- und Staubfeuerlöschern ein. Feuerwerksbatterien knallten in unmittelbarer Nähe der Polizisten. Einer wurde von einer Rakete am Visier getroffen, etwa auf Augenhöhe, wie der Anklageschrift zu entnehmen ist. Die Polizei setzte gegen die Besetzer Gummischrot ein. Die Ausschreitungen dauerten den ganzen Vormittag.

Besetzung an der Effingerstrasse: Ein Blick zurück

Die Vorwürfe

Vor Gericht sagten unter anderem drei beim Einsatz verletzte Polizisten und ein heute pensionierter Feuerwehrmann aus. Drei von ihnen leiden noch heute an einem Knalltinnitus, verursacht durch das Feuerwerk, einer erlitt eine Fussverletzung, die heute verheilt ist.

Die Befragten schilderten alle, dass sie sich insbesondere an die hohe Gewaltbereitschaft des Besetzerkollektivs erinnern können. So etwas habe er in 38 Dienstjahren nicht erlebt, sagte der heute pensionierte Feuerwehrmann.

Demonstration während des Prozesses

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Legende: Keystone

Während des dreiwöchigen Prozesses gab es in der Berner Innenstadt eine Demonstration. Rund 300 Personen gingen dabei auf die Strasse, um ihre Solidarität mit den Angeklagten zu bekunden.

Auch zum Prozessauftakt war bereits demonstriert worden. Rund 60 Personen versammelten sich vor dem Gerichtsgebäude.

Die Staatsanwaltschaft legte den angeklagten Frauen und Männern Hausfriedensbruch sowie Gewalt und Drohungen gegen Beamte zur Last. Die Strafanträge reichten von teilweise bedingten Geldstrafen zwischen 175 und 270 Tagen und Bussen bis zu Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr.

Das Urteil

Das Gericht spricht nun am Donnerstagmorgen alle 16 Beschuldigten frei, was den Vorwurf der Gewalt angeht. Man könne nicht nachweisen, wer was getan habe. In einem Punkt aber seien sie schuldig: Sie alle haben nachweislich Hausfriedensbruch begangen.

Die Polizei habe den Besetzern am Morgen der Räumung auch keine Frist eingeräumt, damit allfällig Nichtbeteiligte die Liegenschaft hätten verlassen können. Hätte sie dies getan, wäre ein Beweis, wer zum harten Kern der gewalttätigen Besetzenden gehörte, einfacher gewesen, kam die Richterin zum Schluss.

Das Urteil wollte die Richterin «mitnichten» als Freipass für Hausbesetzende verstanden wissen. Vielmehr sprach sie von «moralischem Komplettbankrott», wenn Menschen Gewalt anwendeten. Die meisten Angeschuldigten wurden zu bedingten Geldstrafen verurteilt.

Was das Urteil bedeutet

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Die Einschätzung von Bern-TV-Korrespondent Urs Gilgen:

«Die Staatsanwaltschaft hat hoch gepokert – und verloren. Sie hat Strafen gefordert, die bis zu einem Jahr Gefängnis gingen. Und sie wollte einen grossen Prozess, quasi einen Schauprozess gegen die Besetzerszene.

Jetzt hat das Gericht geurteilt, dass die Gewalttaten den Besetzerinnen und Besetzern nicht konkret zugewiesen werden können. Zwar waren alle Beschuldigten im Haus. Zwar gab es Gewalt und verletzte Polizisten. Aber die Besetzerinnen und Besetzer waren vermummt und nicht erkennbar. Und sie haben im gesamten Prozess die Aussagen verweigert. Die Straftaten können ihnen nicht zugewiesen werden. Daher gibt es lediglich Geldstrafen gegen die Besetzerinnen und Besetzer – wegen Hausfriedensbruchs, und nicht wegen Gewalt gegen Beamte.

Bitter ist das Urteil für die Polizisten und den Feuerwehrmann, die heute noch unter körperlichen Beeinträchtigungen leiden.»

Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 17.06.2021, 12:03 Uhr ; 

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