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Berner Hüttendorf Anstadt So lebt es sich in der bedrohten Berner Bauwagenutopie

Seit 7 Jahren lebt die Anstadt ihre Bauwagenutopie im Berner Gaswerkareal. Nun droht das Ende – die Stadt plant Hunderte Wohnungen.

Julias Bauwagen ist ein Kitschparadies. Die Wände weiss und pink, eine orange Pendellampe, Blumengirlanden an der Wand.

Der Bauwagen ist Julias Schlafzimmer und soll auch ein Klischee widerlegen: «Manchmal haben die Leute das Gefühl, wir seien schmuddelige Menschen, die sich nicht duschen», lacht die medizinische Praxisassistentin.

Eine Frau steht auf der Terasse eines umgebauten Bauwagens
Legende: Der umgebaute Bauwagen ist Julias Zimmer. Küche und Wohnzimmer teilt sie mit vier anderen Personen. SRF/Samuel Burri

Auf den ersten Blick wirkt die Anstadt, das Hüttendorf im Berner Gaswerkareal direkt neben der Aare, etwas unaufgeräumt. Holzlatten liegen herum, mittendrin steht ein halbfertiges Boot, ständig wird gebaut und gewerkelt.

Wir erwarten ein Baby in der WG. Darum bauen wir eine Heizung ein.
Autor: Julia Bewohnerin Anstadt

So auch bei Julias Gemeinschaftswohnung. «Wir erwarten ein Baby in der WG, nun bauen wir eine Heizung und eine Dusche ein. Darum ist es gerade etwas chaotisch.»

Holz spalten für gute Laune

Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Anstadt müssen zur Gemeinschaftsdusche und den Toiletten rund 100 Meter gehen. «In der Nacht zieht man auch mal einen Schuh raus, wenn es sumpfig ist», erzählt Julia. Schon jetzt ist es auch tagsüber kalt.

Die Anstadt: Berner Hüttenutopie

Und doch liebt Julia das Leben hier. «Es ist schön, mit vielen verschiedenen Menschen zusammen zu sein. Und nicht einfach in einer Wohnung hinter verschlossener Türe zu leben.» Oft sei sie draussen, das tue ihr gut. «Wenn ich hässig bin, gehe ich eine Stunde Holz spalten», grinst die 28-Jährige.

Hier war vorher eine ungenutzte Wiese, darum haben wir uns diesen Ort genommen.
Autor: Tim Bewohner Anstadt

Nachbar Tim kocht in seiner Wohnküche Kaffee. Der 32-jährige Metallbauer und Student gehörte zu den Besetzern der ersten Stunde. «Hier war vorher eine ungenutzte Wiese, darum haben wir uns diesen Ort genommen», erzählt Tim. Nach der Besetzung gab es Verhandlungen mit der Stadt Bern, welcher das Areal gehört.

Aus den Bauwagen entstand in den letzten Jahren ein Hüttendorf, das einen Nutzungsvertrag mit der Stadt abgeschlossen hat. Rund 50 Menschen wohnen hier.

Hüttentraum soll Wohnungen weichen

Doch das idyllische Durcheinander ist bedroht, denn die Stadt will das Gaswerkareal überbauen, mehrere Hundert Wohnungen sollen an der Toplage direkt neben der Aare entstehen. Der nächste Schritt: Am 30. November stimmt das Stadtberner Stimmvolk über den Zonenplan mit Planungspflicht für das Gaswerkareal ab.

Ein Mann in der Küche setzt Kaffee auf
Legende: Tim in seiner Wohnküche. Gekocht wird mit Holz oder Gas. SRF/Samuel Burri

Linke Ideen kollidieren in der Hüttenutopie

Eine Hüttenutopie für wenige oder Wohnen für viele? In Bern prallen zwei linke Ideen aufeinander. Tim betont: «Die Anstadt ist mehr als ein Wohnort.» Mehrere Räume können unkommerziell genutzt werden. In der grossen ehemaligen Feuerwehrhalle wird gerade Theater geprobt, es gibt ein Kino, eine Bar.

Die Stadt Bern toleriert Besetzungen auf Zeit

Box aufklappen Box zuklappen
Eine Frau lacht in die Kamera
Legende: Melanie Mettler, Berner Finanzdirektorin ZVG

Bis die Bagger auffahren darf die Anstadt auf dem Gaswerkareal bleiben, erklärt die zuständige Gemeinderätin Melanie Mettler (GLP): «Grundsätzlich ist es besser, wenn jemand da ist, als dass eine Brache leer steht.»

Unterdessen kämpft der Verein Anstadt juristisch und politisch gegen die Baupläne der Stadt. «Das ist ihr gutes Recht als Bürgerinnen und Bürger», erklärt Mettler. Zugleich erwartet die Finanzdirektorin, dass die Anstadt-Bewohnenden die Volksentscheide akzeptierten. «Wir entscheiden als Gemeinschaft, wie wir den Raum entwickeln und gestalten – diese Regeln gelten dann für alle.»

In Bern gibt es bereits fünf Wagenplätze oder Hüttendörfer auf städtischem Grund. Vor rund zehn Jahren wollte die Stadt eine Zone für Wohnexperimente erstellen - in Riedbach im Westen der Stadt. Doch der Plan ist juristisch blockiert.

Die Anstadt bietet auch temporär Unterschlupf: «Eine Zirkustruppe kommt jährlich mit Wagen vorbei. Und manchmal klopft jemand an der Tür und sucht einen Schlafplatz oder eine Dusche», so Tim.

Wäre gar eine Koexistenz von Hüttendorf und neuer Überbauung denkbar? Genau diese Idee verfolgt ein Vorstoss in Berns Stadtparlament. Darauf würde sich die Anstadt laut Tim wohl einlassen: «Alternative, solidarische und kollektive Wohnformen sollten ins urbane Konzept Berns aufgenommen werden.»

Orte wie die Anstadt würden immer wieder ausgelöscht, so Tim. «Dann braucht es extrem viel Energie, diese Strukturen und Infrastrukturen wieder aufzubauen.»

Karte Gaswerk-Areal
Legende: Das Gaswerk-Areal: so könnte die geplante Überbauung in Bern an der Aare künftig aussehen. ZVG/Stadt Bern

Die Stadt will bauen. Die Anstadt möchte weiterbestehen. «Anstadt bleibt!», steht auf einem grossen Transparent. Noch ist nicht klar, wann die Bagger auffahren werden. Zumindest einige Jahre bleiben der Wohnutopie noch.

Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 5.11.2025, 17:30 Uhr;liea

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