Julias Bauwagen ist ein Kitschparadies. Die Wände weiss und pink, eine orange Pendellampe, Blumengirlanden an der Wand.
Der Bauwagen ist Julias Schlafzimmer und soll auch ein Klischee widerlegen: «Manchmal haben die Leute das Gefühl, wir seien schmuddelige Menschen, die sich nicht duschen», lacht die medizinische Praxisassistentin.
Auf den ersten Blick wirkt die Anstadt, das Hüttendorf im Berner Gaswerkareal direkt neben der Aare, etwas unaufgeräumt. Holzlatten liegen herum, mittendrin steht ein halbfertiges Boot, ständig wird gebaut und gewerkelt.
Wir erwarten ein Baby in der WG. Darum bauen wir eine Heizung ein.
So auch bei Julias Gemeinschaftswohnung. «Wir erwarten ein Baby in der WG, nun bauen wir eine Heizung und eine Dusche ein. Darum ist es gerade etwas chaotisch.»
Holz spalten für gute Laune
Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Anstadt müssen zur Gemeinschaftsdusche und den Toiletten rund 100 Meter gehen. «In der Nacht zieht man auch mal einen Schuh raus, wenn es sumpfig ist», erzählt Julia. Schon jetzt ist es auch tagsüber kalt.
Die Anstadt: Berner Hüttenutopie
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Bild 1 von 6. Das Boot wurde zu einem Symbol der Anstadt – es steht seit Anfang 2018 hier. Bildquelle: SRF/Samuel Burri.
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Bild 2 von 6. In der grossen Halle beim Eingang der Anstadt gibt es ein Kino und eine Bar. Gerade finden Theaterproben statt. Bildquelle: SRF/Samuel Burri.
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Bild 3 von 6. Die meisten Menschen leben in Wohngemeinschaften. Die Hütten und Wagen werden immer wieder umgebaut oder erweitert. Bildquelle: SRF/Samuel Burri.
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Bild 4 von 6. Einige Wohnhäuser sind unterdessen sogar zweistöckig. Bildquelle: SRF/Samuel Burri.
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Bild 5 von 6. Der Kiosk – ein Überbleibsel vom letzten Fest. Auch Spielplatz und Pizzaofen sind vorhanden. Bildquelle: SRF/Samuel Burri.
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Bild 6 von 6. Das Areal der Anstadt ist umzäunt. Die rund 50 Bewohnenden möchten einen offenen Ort schaffen. Bildquelle: SRF/Samuel Burri.
Und doch liebt Julia das Leben hier. «Es ist schön, mit vielen verschiedenen Menschen zusammen zu sein. Und nicht einfach in einer Wohnung hinter verschlossener Türe zu leben.» Oft sei sie draussen, das tue ihr gut. «Wenn ich hässig bin, gehe ich eine Stunde Holz spalten», grinst die 28-Jährige.
Hier war vorher eine ungenutzte Wiese, darum haben wir uns diesen Ort genommen.
Nachbar Tim kocht in seiner Wohnküche Kaffee. Der 32-jährige Metallbauer und Student gehörte zu den Besetzern der ersten Stunde. «Hier war vorher eine ungenutzte Wiese, darum haben wir uns diesen Ort genommen», erzählt Tim. Nach der Besetzung gab es Verhandlungen mit der Stadt Bern, welcher das Areal gehört.
Aus den Bauwagen entstand in den letzten Jahren ein Hüttendorf, das einen Nutzungsvertrag mit der Stadt abgeschlossen hat. Rund 50 Menschen wohnen hier.
Hüttentraum soll Wohnungen weichen
Doch das idyllische Durcheinander ist bedroht, denn die Stadt will das Gaswerkareal überbauen, mehrere Hundert Wohnungen sollen an der Toplage direkt neben der Aare entstehen. Der nächste Schritt: Am 30. November stimmt das Stadtberner Stimmvolk über den Zonenplan mit Planungspflicht für das Gaswerkareal ab.
Linke Ideen kollidieren in der Hüttenutopie
Eine Hüttenutopie für wenige oder Wohnen für viele? In Bern prallen zwei linke Ideen aufeinander. Tim betont: «Die Anstadt ist mehr als ein Wohnort.» Mehrere Räume können unkommerziell genutzt werden. In der grossen ehemaligen Feuerwehrhalle wird gerade Theater geprobt, es gibt ein Kino, eine Bar.
Die Anstadt bietet auch temporär Unterschlupf: «Eine Zirkustruppe kommt jährlich mit Wagen vorbei. Und manchmal klopft jemand an der Tür und sucht einen Schlafplatz oder eine Dusche», so Tim.
Wäre gar eine Koexistenz von Hüttendorf und neuer Überbauung denkbar? Genau diese Idee verfolgt ein Vorstoss in Berns Stadtparlament. Darauf würde sich die Anstadt laut Tim wohl einlassen: «Alternative, solidarische und kollektive Wohnformen sollten ins urbane Konzept Berns aufgenommen werden.»
Orte wie die Anstadt würden immer wieder ausgelöscht, so Tim. «Dann braucht es extrem viel Energie, diese Strukturen und Infrastrukturen wieder aufzubauen.»
Die Stadt will bauen. Die Anstadt möchte weiterbestehen. «Anstadt bleibt!», steht auf einem grossen Transparent. Noch ist nicht klar, wann die Bagger auffahren werden. Zumindest einige Jahre bleiben der Wohnutopie noch.