Die Einwohnerinnen und Einwohner von Blatten und Ried haben ihr Zuhause verloren – der gewaltige Gletscherabbruch hat am Mittwoch ihre Häuser zerstört, jene, die unversehrt blieben, versinken jetzt im See der gestauten Lonza. Was bedeutet das für die Betroffenen? Welche Hilfe brauchen sie jetzt? Antworten hat der Notfallpsychologe Urs Braun.
SRF News: In welcher psychischen Situation befinden sich die Einwohnerinnen und Einwohner aus Blatten derzeit?
Urs Braun: Im Moment ist das ein Schock und eine grosse Belastung. Viele von ihnen sind vom Verlust ihrer Existenz bedroht – etwa Bauern, die ihr Heim und ihr Land verlieren.
Blatten und Ried wurden schon vor zwei Wochen evakuiert. Wie wichtig war diese Zwischenphase als Vorbereitung auf das Schlimmstmögliche, das nun tragischerweise eingetroffen ist?
Für die Betroffenen war das schon damals ein Schock. Sie mussten ihre Wohnungen und Häuser innert anderthalb Stunden verlassen und vieles zurücklassen. In der Zwischenzeit hatten sie immerhin Zeit, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Sie konnten sich ein kleines bisschen auf das Schlimmste vorbereiten. Wenn man sich auf schlimme Ereignisse vorbereiten kann, dann sind sie einfacher zu bewältigen, als wenn eine Katastrophe ohne jede Vorbereitung eintritt.
Je rascher wieder eine Art Normalität eintritt, umso einfacher ist das Belastende zu überstehen.
Trotzdem ist der Verlust des Heims, der eigenen Existenz, ein sehr belastendes Ereignis. Ich hoffe, dass die Betroffenen jetzt sehr gut untergebracht sind. Denn je rascher wieder eine Art Normalität eintritt – man also in einer eigenen Wohnung leben kann und die Kinder wieder zur Schule gehen können –, desto einfacher ist es, das Belastende zu überstehen.
Der Berg- und Gletscherabbruch in Blatten im Lötschental
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Bild 1 von 23. Die Lonza findet den Weg durch den Schuttkegel. Bildquelle: SRF/Detlev Munz.
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Bild 2 von 23. In Blatten und Ried werden Schäden in Höhe von mehreren hundert Millionen Franken erwartet, schätzt der Schweizerische Versicherungsverband SVV . Bildquelle: SRF .
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Bild 3 von 23. Aktuelle Drohnenbilder zeigen: Das Wasser der Lonza bahnt sich einen Weg durch die 2.5 Kilometer langen Schuttmassen und fliesst ab. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 23. Der See in Blatten wird kleiner. Der Regionale Führungsstab geht derzeit nicht davon aus, dass das Wasser über den Schuttkegel schwappen wird. Bildquelle: SRF .
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Bild 5 von 23. Zuvor ist der Pegel der Lonza gestiegen und der neue See drohte überzulaufen. Bildquelle: Reuters/Maxar Technologies.
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Bild 6 von 23. Geröll-, Fels- und Eismassen auf einer Satellitenaufnahme. Bildquelle: Reuters/Maxar Technologies.
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Bild 7 von 23. Das Unbehagen bleibt: Auch am Donnerstag sind vom gegenüberliegenden Hang aus weiterhin Abbrüche zu hören und zu sehen. Bildquelle: SRF.
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Bild 8 von 23. Es sei wichtig, der Bevölkerung eine langfristige Perspektive zu bieten, so der Walliser Staatsrat Christophe Darbellay vor den Medien. «Es ist keine Option, das Tal zu verlassen.». Bildquelle: Keystone.
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Bild 9 von 23. Der grosse See hat sich aus dem hinter dem Absturzmaterial aufgestauten Wasser der Lonza gebildet und die Häuser inzwischen überflutet. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 10 von 23. Erst der Felssturz, dann die Überflutung: Auch von Häusern in Blatten, die am Mittwoch nach dem Gletscherabbruch noch standen, sind mittlerweile höchstens noch die Dächer sichtbar. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 11 von 23. Die Luftaufnahmen zeigen am Donnerstag das ganze Ausmass der Zerstörung: Der allergrösste Teil des Dorfes Blatten liegt begraben unter Geröll und Schlamm oder ist überflutet. Bildquelle: Keystone/Jean-Christophe Bott.
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Bild 12 von 23. Das Zuhause einer Familie im Lötschental. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 13 von 23. Wo vorher ein Dorf war, zeigen sich nun überall Bilder der Verwüstung. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 14 von 23. Der Blick vom Berg ins Tal hinab – eine Schneise, die einer klaffenden Wunde gleicht. Bildquelle: SRF/Beat Kälin.
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Bild 15 von 23. Das Lötschental gilt als Wanderparadies und zieht auch im Winter viele Touristinnen und Touristen an. Nun wurde es von einer Katastrophe ereilt, die ein ganzes Dorf ausgelöscht hat. Bildquelle: Keystone / Jean-Christophe Bott.
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Bild 16 von 23. Das Wasser des Dorfbachs Gisentella und der Lonza staute sich bereits am Mittwochabend östlich des Absturzbereiches in Blatten. Bildquelle: Pomonoa-Medien, Bildschirmfoto Video.
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Bild 17 von 23. Und so kam es zur Katastrophe: Das seit Tagen auf den Birchgletscher stürzende Felsmaterial hatte die Eismassen nach unten geschoben. Am Mittwochnachmittag brach das aufgetürmte Material schliesslich ins Tal ab. Bildquelle: SRF.
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Bild 18 von 23. Nach dem Abbruch stieg eine Staubwolke aus dem Talgrund und wälzte sich bis über die Lauchernalp (Fotostandort) ins Lötschental. Bildquelle: SRF.
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Bild 19 von 23. Die Staubmassen füllten das hintere Lötschental über der Gemeinde Blatten auf. Hier zeigt sich der Blick nach Osten von Wiler in Richtung Langgletscher. Bildquelle: SRF.
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Bild 20 von 23. Nachdem sich der Staub gelichtet hatte, türmte sich meterhoch Absturzmaterial aus Schutt, Fels, Bäumen und Gletschereis westlich des Dorfes Blatten auf. Im Bild der Blick von Wiler in Richtung Südost. Bildquelle: SRF .
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Bild 21 von 23. So präsentierten sich nach dem Abbruch am Mittwoch die Schuttmassen am südwestlichen Dorfrand mit der Faflerstrasse und der Lonza in der Bildmitte. Bildquelle: SRF.
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Bild 22 von 23. Mehrere Millionen Kubikmeter Gestein: Die Menge an Geröll, die ins Tal stürzte, ist kaum vorstellbar. Mit dem Abbruchmaterial könnten 1200 Olympia-Schwimmbecken gefüllt werden. Bildquelle: SRF.
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Bild 23 von 23. Betroffenheit und Mitgefühl: Die Bundesräte Albert Rösti (rechts) und Martin Pfister während der Medienkonferenz am Mittwoch. Die Schweiz und das Wallis stünden hinter den Einwohnerinnen und Einwohnern Blattens. Bildquelle: Keystone/Jean-Christophe Bott.
Wie wichtig ist die Unterstützung durch die Behörden?
Wenn die Menschen jetzt Unterstützung vom Tal, Kanton und Bund spüren, und sie merken, dass man sich um sie sorgt, ist das ein sehr wichtiger erster Schritt. So können sie sich irgendwo zumindest wieder sicher und geborgen fühlen. Vor allem für Kinder und junge Menschen ist es wichtig, dass schnell wieder Normalität einkehrt mit einer Alltagsstruktur.
Die Menschen verlieren nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihr Dorf, ihre Heimat. Was bedeutet das für sie?
Das ist wohl der Unterschied zu früheren Ereignissen, wie etwa jenem von Gondo. Wenn man die Bilder jetzt sieht, scheint völlig unklar, ob hier je wieder ein Dorf stehen wird, und falls doch, ist das in weiter Ferne. Deshalb muss man den Menschen jetzt schon längerfristig gute Möglichkeiten für ihre persönliche Zukunft geben.
Den Gefühlen als Reaktion auf eine völlig ver-rückte Situation muss man Raum geben – und sie benennen.
Es gibt viel Trost, auch von Bundesräten, es gibt Spendenaktionen. Inwiefern hilft das den Betroffenen psychisch?
Sie fühlen sich nicht alleine gelassen, sie fühlen die Solidarität im Land. Das ist sicher ein wichtiger Hinweis für die betroffenen Menschen.
Was brauchen die Menschen aus Blatten und Ried jetzt an psychologischer Unterstützung?
Was die Betroffenen erlebt haben – innert Sekunden wird ihr ganzes Dorf zerstört –, ist ein hochbelastender Moment, der viele Gefühle auslöst. Das ist eine Reaktion auf eine völlig ver-rückte Situation. Diesen Gefühlen muss man Raum geben und sie benennen – Wut, Trauer, Existenzangst und vieles mehr. In der Notfallpsychologie versuchen wir, diese Gefühle innert vier bis sechs Wochen nach einem solchen Ereignis zu normalisieren. Nur falls die Gefühle danach immer noch so stark sind, sind allenfalls therapeutische Massnahmen angezeigt.
Das Gespräch führte Yves Kilchör.