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Blatten und Ried zerstört Notfallpsychologe: Wichtig ist schnell eine Art neue Normalität

Die Einwohnerinnen und Einwohner von Blatten und Ried haben ihr Zuhause verloren – der gewaltige Gletscherabbruch hat am Mittwoch ihre Häuser zerstört, jene, die unversehrt blieben, versinken jetzt im See der gestauten Lonza. Was bedeutet das für die Betroffenen? Welche Hilfe brauchen sie jetzt? Antworten hat der Notfallpsychologe Urs Braun.

Urs Braun

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Der Zuger Urs Braun ist Fachpsychologe für Psychotherapie, eidgenössisch anerkannter Psychotherapeut und Notfallpsychologe. Er hat u.a. die Menschen nach dem Bergsturz von Gondo/VS im Jahr 2000 betreut.

SRF News: In welcher psychischen Situation befinden sich die Einwohnerinnen und Einwohner aus Blatten derzeit?

Urs Braun: Im Moment ist das ein Schock und eine grosse Belastung. Viele von ihnen sind vom Verlust ihrer Existenz bedroht – etwa Bauern, die ihr Heim und ihr Land verlieren.

Blatten und Ried wurden schon vor zwei Wochen evakuiert. Wie wichtig war diese Zwischenphase als Vorbereitung auf das Schlimmstmögliche, das nun tragischerweise eingetroffen ist?

Für die Betroffenen war das schon damals ein Schock. Sie mussten ihre Wohnungen und Häuser innert anderthalb Stunden verlassen und vieles zurücklassen. In der Zwischenzeit hatten sie immerhin Zeit, sich mit der Situation auseinanderzusetzen. Sie konnten sich ein kleines bisschen auf das Schlimmste vorbereiten. Wenn man sich auf schlimme Ereignisse vorbereiten kann, dann sind sie einfacher zu bewältigen, als wenn eine Katastrophe ohne jede Vorbereitung eintritt.

Je rascher wieder eine Art Normalität eintritt, umso einfacher ist das Belastende zu überstehen.

Trotzdem ist der Verlust des Heims, der eigenen Existenz, ein sehr belastendes Ereignis. Ich hoffe, dass die Betroffenen jetzt sehr gut untergebracht sind. Denn je rascher wieder eine Art Normalität eintritt – man also in einer eigenen Wohnung leben kann und die Kinder wieder zur Schule gehen können –, desto einfacher ist es, das Belastende zu überstehen.

Der Berg- und Gletscherabbruch in Blatten im Lötschental

Wie wichtig ist die Unterstützung durch die Behörden?

Wenn die Menschen jetzt Unterstützung vom Tal, Kanton und Bund spüren, und sie merken, dass man sich um sie sorgt, ist das ein sehr wichtiger erster Schritt. So können sie sich irgendwo zumindest wieder sicher und geborgen fühlen. Vor allem für Kinder und junge Menschen ist es wichtig, dass schnell wieder Normalität einkehrt mit einer Alltagsstruktur.

Verlorene Objekte der Erinnerung

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Luftaufnahme von überfluteten Häusern in schlammigem Wasser.
Legende: Keystone/Jean-Christophe Bott

Viele Menschen aus Blatten und Ried haben bei ihrer raschen Evakuierung auch viele persönliche und Erinnerungsgegenstände wie Fotoalben und ähnliches zurücklassen müssen. Diese Gegenstände sind jetzt für immer verloren.

Dazu sagt Urs Braun: «Eine Frau, die in Gondo im Jahr 2000 alles verloren hat, schilderte mir ein Jahr später, wie tragisch es für sie immer noch sei, dass sie sämtliche Erinnerungen, ihre ganze Geschichte verloren habe. Es blieb ihr nicht einmal ein Teddybär übrig, alle Fotos, alle Alben waren weg. Dass ein Teil der persönlichen Geschichte ausgelöscht wurde, kann auch längerfristig belastend sein.»

Manchmal sei es auch bloss ein Paar Turnschuhe, die man viel getragen hat und mit denen viele Erinnerungen verknüpft sind und die nun plötzlich weg sind, die die Verlustgefühle verstärken könnten.

Die Menschen verlieren nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihr Dorf, ihre Heimat. Was bedeutet das für sie?

Das ist wohl der Unterschied zu früheren Ereignissen, wie etwa jenem von Gondo. Wenn man die Bilder jetzt sieht, scheint völlig unklar, ob hier je wieder ein Dorf stehen wird, und falls doch, ist das in weiter Ferne. Deshalb muss man den Menschen jetzt schon längerfristig gute Möglichkeiten für ihre persönliche Zukunft geben.

Den Gefühlen als Reaktion auf eine völlig ver-rückte Situation muss man Raum geben – und sie benennen.

Es gibt viel Trost, auch von Bundesräten, es gibt Spendenaktionen. Inwiefern hilft das den Betroffenen psychisch?

Sie fühlen sich nicht alleine gelassen, sie fühlen die Solidarität im Land. Das ist sicher ein wichtiger Hinweis für die betroffenen Menschen.

Was brauchen die Menschen aus Blatten und Ried jetzt an psychologischer Unterstützung?

Was die Betroffenen erlebt haben – innert Sekunden wird ihr ganzes Dorf zerstört –, ist ein hochbelastender Moment, der viele Gefühle auslöst. Das ist eine Reaktion auf eine völlig ver-rückte Situation. Diesen Gefühlen muss man Raum geben und sie benennen – Wut, Trauer, Existenzangst und vieles mehr. In der Notfallpsychologie versuchen wir, diese Gefühle innert vier bis sechs Wochen nach einem solchen Ereignis zu normalisieren. Nur falls die Gefühle danach immer noch so stark sind, sind allenfalls therapeutische Massnahmen angezeigt.

Das Gespräch führte Yves Kilchör.

Glückskette sammelt für Blatten

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QR-Code

Die Glückskette hat eine Sammelaktion gestartet für die Betroffenen im Lötschental. Spenden kann man unter anderem via QR-Code sowie auf der Website der Glückskette.

SRF 4 News aktuell, 30.5.2025, 7:40 Uhr ; 

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