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Brienz/Brinzauls Geologe: «Wir haben auf keinen Fall zu früh evakuiert»

Der drohende Bergsturz in Brienz (GR) hält die Bevölkerung auf Trab. Darf die Bevölkerung zumindest kurzzeitig zurück in ihre Häuser? Deswegen gab es ein Hin und Her. Der Geologe Andreas Huwiler schätzt die aktuelle Lage ein.

Andreas Huwiler

Geologe

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Andreas Huwiler ist Geologe und diplomierter Bergführer und arbeitet seit 2009 für das Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Graubünden. Er ist sowohl an der Überwachung des Piz Cengalo oberhalb von Bondo beteiligt als auch am Rettungsversuch von Brienz/Brinzauls.

SRF News: Vor zehn Tagen stellte man den Bauern in Aussicht, sie könnten ihre Wiesen bewirtschaften. Das wurde abgesagt, der Berg verhalte sich nicht so, wie man das eigentlich von den Modellen erwartet hätte. Man konnte den Berg quasi nicht mehr richtig lesen. Heute dürfen die Bauern ins Dorf. Versteht man den Berg jetzt wieder besser?

Das ist richtig. Wir verstehen den Berg wieder ein bisschen besser. Wir sind jetzt in der Lage, eine Prognose abzugeben, was am heutigen Tag und möglicherweise auch am Folgetag passieren wird. Deshalb können wir es verantworten, dass sich eine beschränkte Anzahl Personen in einem klar definierten Zeitfenster in diesem gefährdeten Gebiet aufhält.

Vor ein paar Wochen gab es drei Szenarien: Felsstürze, ein stetiger, zäher Schuttstrom oder ein grosser Bergsturz. Was ist der Stand der Dinge?

Wir müssen nach wie vor von einem dieser drei Szenarien ausgehen. Das momentan wahrscheinlichste Szenario ist ein Schuttstrom, der langsam fliesst. Langsam heisst: mit mehreren Metern oder zehn Metern pro Tag. Die anderen Szenarien können nach wie vor nicht ausgeschlossen werden. Die Wahrscheinlichkeit eines Bergsturzes beurteilen wir im Moment sicher kleiner als noch vor zwei oder drei Wochen.

Das momentan wahrscheinlichste Szenario ist ein Schuttstrom, der langsam fliesst.

Ein Bergsturz ist unwahrscheinlicher und Felsstürze und Schuttstrom haben in der Wahrscheinlichkeit quasi die Plätze getauscht.

Das könnte man so sagen, dass diese Szenarien ihre Plätze getauscht haben. Allerdings ist es nach wie vor sehr unsicher, was passieren wird. Es ist auch immer möglich, dass es eine Kombination von solchen Szenarien geben wird. Dass sich zwar ein Schuttstrom ausbildet, dieser aber auch von grossen Felsstürzen begleitet wird.

Heute dürfen die Bauern ins Dorf, um die unteren Wiesen zu bewirtschaften. Die Gemeinde sagte in den letzten Tagen immer wieder, man möchte es den Menschen ermöglichen, kurzzeitig in ihre Häuser zurückzukehren. Ist das zu verantworten?

Die Option, dass die Bewohner von Brienz für eine kurze Zeit zurückkommen, wird im Gemeindeführungsstab immer wieder geprüft. Für morgen ist vorgesehen, dass zwei solcher Zeitfenster zur Verfügung gestellt werden. Selbstverständlich muss man am Morgen kurz vor diesem Zeitfenster die Situation nochmals beurteilen, bevor man das «Go» geben kann.

Die Evakuierung ist bald einen Monat her. Damals wurde die Phase Rot ausgerufen. Das bedeutete, dass in vier bis 14 Tagen ein Ereignis eigentlich zu erwarten war. Das ist nicht passiert. Hat man zu früh evakuiert?

Nein, man hat auf keinen Fall zu früh evakuiert. Die damalige Datenlage war derart alarmierend, dass es unverantwortlich gewesen wäre, wenn man nicht evakuiert hätte. Glücklicherweise ist bis jetzt kein grosser Bergsturz eingetreten. Es gab auch keine grossen Felsstürze, die möglicherweise bis zum Dorf gelangt wären. Möglicherweise entwickelt sich jetzt ein Schuttstrom.

Was bedeutet das für die Bevölkerung? Muss sie sich nun auf eine sehr langwierige Sache einstellen?

Leider können wir nicht ausschliessen, dass es noch lange dauern wird, bis die Bevölkerung wirklich zurück ins Dorf kann. Das können wir zum heutigen Zeitpunkt nicht sagen.

Das Gespräch führte Silvio Liechti.

SRF1 Regionaljournal Graubünden, 06.06.2023, 17:30 Uhr ; 

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