Zwei Berichte offenbaren Missstände, die bislang nicht bekannt waren. SRF hat Einsicht in diese Untersuchungsberichte verlangt, die das Psychiatriezentrum Münsingen PZM im Jahr 2022 hatte erstellen lassen. Erst mit Berufung auf das Öffentlichkeitsprinzip gab das PZM sie heraus.
Die Berichte zeichnen auf fast 120 Seiten ein desolates Bild der Klinik. Zu lesen ist von internen Streitereien, schwacher Führung und fehlender Kontrolle. Pflegende setzten teilweise ärztliche Anordnungen nicht um, was für die «Patientensicherheit eine erhebliche Gefahr» dargestellt habe.
Weiter ist in den Expertenberichten zu lesen, dass der damalige ärztliche Direktor versucht habe «unter dem Radar» Drogentherapien einzuführen und eine Patientin sei mit einer Substanz behandelt worden, die nicht für die Krankheit zugelassen ist.
Diese brisanten Untersuchungsergebnisse waren der Öffentlichkeit bis heute nicht zugänglich. An einer eigens ausgerichteten Medienkonferenz zu den Berichten im Juni 2022 benannte sie die Klinik nicht. Damals war lediglich die Rede von «organisatorischen und führungsspezifischen Schwachstellen» am PZM. Und davon, dass man die Arbeit des damaligen ärztlichen Direktors «nicht ausreichend» kontrolliert habe. Die Klinik gab zudem bekannt, man habe eine unabhängige Meldestelle geschaffen, bei der Fehlverhalten anonym deponiert werden könne.
Dass nicht alle Missstände publik gemacht wurden, kritisiert Verwaltungsrechtsexperte Markus Müller von der Uni Bern: «Wichtige Punkte werden so der Bevölkerung vorenthalten. Sie hat aber das Recht zu wissen, wenn in einer kantonalen Klinik gravierende Missstände bestehen.» Und: «Es geht um Menschen, die gefährdet werden, und da ist absolute Transparenz nötig.»
Das PZM nimmt schriftlich Stellung: «Seit Februar 2022 hat das PZM den Kanton Bern aktiv und transparent über die Untersuchung informiert. Das PZM war sich der hohen Sensibilität der Thematik von Anfang an bewusst und hat nichts zu verheimlichen versucht.» Die Berichte seien von unabhängigen Experten verfasst worden.
Die Missstände konkret
Wegen Konflikten und Querelen zwischen Abteilungen und Chefärzten fehlte es an Führung. Pflegende setzten teilweise ärztliche Anordnungen nicht um. Für die untersuchenden Experten eine «hohe Alarmstufe»: «Dies ist für das Funktionieren einer Klinik in höchstem Masse problematisch und stellt für die Patientensicherheit eine erhebliche Gefahr dar.» Weiter sei dies für die Behandlungsqualität «kritisch».
Das PZM schreibt dazu: «Der Untersuchungsbericht der Experten hält fest, dass Patient:innen zu keinem Zeitpunkt zu Schaden gekommen sind.»
Grosses Reputationsrisiko
In den Fokus der Experten rückte auch der damalige ärztliche Direktor. Er sei «fasziniert von der Psycholyse» gewesen, dem Einsatz von psychodelischen Drogen in der Behandlung. Es sei um psychodelische Substanzen wie Psilocybin (halluzinogene Pilze) und MDMA gegangen, heisst es in den Berichten. Er habe «unter dem Radar» erste Schritte unternommen, um die umstrittene Therapiemethode am PZM einzuführen.
Die Vorgesetzten wussten nichts von den Plänen für Psycholyse-Therapien. In den Expertenberichten sprechen sie von einem «grossen Reputationsrisiko» für das PZM.
Dazu schreibt das PZM: «Laut Untersuchungsbericht gab es keine Hinweise auf die Anwendung nicht zugelassener Behandlungsmethoden oder Substanzen.»
Behandlungsversuch wurde nicht richtig dokumentiert
Den Experten fiel auch die Therapie einer Patientin mit Ketamin auf, eine «potenziell gefährliche Behandlung». Ketamin ist ein halluzinogen wirkendes Narkosemittel, welches auch bei Depressionen eingesetzt wird. Die Patientin litt jedoch unter einer bipolaren Störung. Dafür «bestand nur sehr beschränkte uns bekannte wissenschaftliche oder klinische Evidenz (...) welche den Einsatz von Ketamin rechtfertigen würde», schreiben die Experten. Die Patientin sei über den Behandlungsversuch nicht entsprechend aufgeklärt und dieser sei auch nicht richtig dokumentiert worden.
Das PZM nimmt allgemein Stellung: «Es konnte lediglich ein einzelner Fall einer off-label-Behandlung mit Ketamin festgestellt werden. Ketamin wurde und wird international off label bei therapieresistenten Depressionen eingesetzt.»
Dass es im Psychiatriezentrum Münsingen zu solchen Missständen kam, schätzen Experten als Reputationsproblem ein. «In der Psychiatrie ist es besonders gravierend, wenn Bestimmungen nicht eingehalten werden», sagt Psychiater und Gutachter Thomas Maier. «Die Glaubwürdigkeit der Institutionen steht auf dem Spiel. Aber auch die Sicherheit und die Gesundheit der Patienten. Sie sind in der Psychiatrie besonders abhängig.»
Nahm der Kanton seine Aufsicht wahr?
Weitere Recherchen von SRF Investigativ und dem Regionaljournal Bern Freiburg Wallis zeigen, dass die bernische Gesundheitsdirektion – und damit die Bewilligungs- und Aufsichtsbehörde – nicht vollumfänglich über die Missstände im Bild war. Sie bestätigt auf Anfrage, man habe die beiden Expertenberichte im September 2023 erhalten. 15 Monate nach deren Abschluss. Ob die Gesundheitsdirektion die Berichte selbst eingefordert oder auf anderen Wegen erhalten hat, lässt sie offen.
Laut bernischem Spitalversorgungsgesetz ist das PZM verpflichtet, die Gesundheitsdirektion über Probleme zu informieren. Die Klinik schreibt dazu: «Das PZM hat sich jederzeit an die Meldepflicht gegenüber dem Kanton Bern sowie an die gesetzlichen Vorgaben gehalten.»
Für Verwaltungsrechtsexperte Markus Müller ist fraglich, ob die Regierung als Aufsichtsbehörde ihren Job gemacht hat: «Sobald eine Krise im Anzug ist, muss die Regierung ihre Klinik an die kurze Leine nehmen, genauer hinschauen und allenfalls intervenieren.»
Die bernische Gesundheitsdirektion beantwortet die Fragen von SRF nur allgemein und geht nicht auf die nun aufgedeckten Missständen ein. In der Stellungnahme betont sie, man habe 2022 einen eigenen Experten mit einer Untersuchung beauftragt, als erste Vorwürfe publik wurden. Er habe Zugang zu allen wichtigen Informationen gehabt und diese in seinen Bericht integriert. Und: «Das PZM hat gehandelt, setzt die Empfehlungen um und berichtet der GSI regelmässig.»
Mittlerweile hat sich die mächtige Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rates des Kantons Bern in die Affäre eingeschaltet. Sie hat die Aufsicht über die Regierung und will demnächst die Öffentlichkeit informieren.