Ein Rentner wird in einem Bahnhof von einem kranken Mann auf die Schiene gestossen. Ein Zug schleift den Rentner mit, dieser überlebt, wird aber schwer verletzt. Die SBB, die eigentlich nichts dafür kann, muss diesem Mann nun 35’000 Franken Genugtuung bezahlen, wie das Bundesgericht entschieden hat.
35’000 Franken hatte die geschädigte Person verlangt und bekommt diese nun auch von der SBB. Ungerecht? Walter Fellmann ist Professor für Privatrecht an der Universität Luzern und Anwalt, spezialisiert auf Haftungsrecht. Er hat das Urteil des Bundesgerichtes studiert und kommt zum Schluss: «Nach Meinung des Bundesgerichts liegt ein Geschehen, wie es hier zur Diskussion steht, nämlich dass jemand vor den Zug gestossen wird, immer noch im Rahmen des Betriebsrisikos der Eisenbahn.»
Betreiber profitiert von Eisenbahn
Hier komme die so genannte Gefährdungshaftung zur Anwendung: «Gefährdungshaftung heisst, dass ein Verschulden des Betreibers nicht erforderlich ist.» Die SBB hat also auch dann Genugtuung zu zahlen, wenn sie keine Schuld am Vorfall trägt. Bei der Gefährdungshaftung geht es um Betriebsrisiken, die man nie ganz ausschliessen kann.
Die SBB profitiere vom Betrieb einer Eisenbahn: «Als Betreiber einer Eisenbahn hat sie Einnahmen und kann Eisenbahntickets veräussern. Aus diesem Grund soll sie auch mit den verbundenen Risiken einzustehen haben.»
Ausnahmen bei höherer Gewalt oder Selbsttötungen
Die rechtliche Haftung der SBB ist im Eisenbahngesetz geregelt. Darin gibt es auch Ausnahmen, beispielsweise bei höherer Gewalt wie Naturkatastrophen oder Unwetter. Oder wenn Drittpersonen den Schaden verursachen und sie grobes Verschulden trifft.
Genau auf diese Ausnahmebestimmung berief sich die SBB und blitzte nun vor Bundesgericht ab. Die Ausnahmebestimmung komme bei Selbsttötungen zur Anwendung.
Die SBB selbst wollte zum Urteil keine Stellung nehmen. Sie schreibt auf Anfrage, dass sie das Urteil prüfen und falls nötig Massnahmen ergreifen werde.
Steht die SBB jetzt unter Druck, für mehr Sicherheit auf den Perrons zu sorgen? Dass eben solches «Vor-den-Zug-stossen» nicht mehr vorkommen kann? Nein, sagt Fellmann:«Wir alle unterliegen dem sogenannten Rückschaufehler. Dieser liegt darin, dass man nach einem Unfall, je dramatischer er ist, desto mehr die Auffassung hat, der Unfall wäre vermeidbar gewesen.»
Ein Risiko Null gibt es nicht. Und darum stehe die SBB nicht in der Pflicht, Schutzbauten in den Bahnhöfen zu bauen. Aber von jetzt an trägt sie das Geschäftsrisiko, Genugtuung zu zahlen, sollte wieder eine Person eine andere Person aufs Gleis stossen.