Zum Inhalt springen

Bundespräsident zum 1. August Berset: «Aufpassen, dass wir nicht nur in Bubbles diskutieren»

Die Inflation, die Schweizer Neutralität, der Krieg in der Ukraine: Das sind gerade mal drei von vielen Themen, die die Schweiz derzeit beschäftigen. Bundespräsident Alain Berset zum 1. August und zum Zustand unseres Landes.

Alain Berset

Bundespräsident

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Alain Berset ist seit 2012 Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI). Für das Jahr 2023 ist Berset zudem Bundespräsident. Er wurde 1972 geboren, studierte an der Universität Neuenburg Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die er 2005 mit dem Doktorat abschloss. Der Sozialdemokrat war für den Kanton Freiburg im Ständerat und übte dort 2008 und 2009 das Amt des Ständeratspräsidenten aus. Neben seinem politischen Mandat präsidierte Berset den Westschweizer Mieterinnen- und Mieterverband und die Schweizerische Vereinigung zur Förderung der AOC/IGP.

Ende 2023 wird Alain Berset nicht mehr als Bundesrat kandidieren.

SRF: Wir sind hier in Freiburg im «Café des Arcades». Da ist gleich die Kathedrale, dahinten die Altstadt und auch gleich das Rathaus. Dort ist Ihre Mutter gerade erst als Grossrätin zurückgetreten, nach 27 Jahren. Sie sind in einer wirklich politischen Familie aufgewachsen. Wie hat Sie das geprägt?

Wissen Sie, die Politik war nicht immer präsent. Am Anfang war es eher das soziale Engagement – in Chören oder im Sport. Das hat dazu geführt, dass ich mich für die Gesellschaft engagiere, was mich wiederum in die Politik geführt hat.

Wie haben Sie den 1. August als Kind verbracht?

Es gab immer eine Feier, mit der Familie, im Dorf. Das waren immer schöne Momente. Es ist vielleicht auch ein Glück, dass es in den Ferien ist. Die Leute sind entspannt. Es ist meist warm. Man ist draussen, wo man die direkten Kontakte pflegen kann.

Wir feiern den Geburtstag der Schweiz. Wir feiern dieses Jahr aber auch die Verfassung von 1848 und den modernen Bundesstaat. Feiern wir also 175 Jahre Schweiz oder 732 Jahre Schweiz?

Beides. Es gehört zusammen. Aber selbstverständlich, man muss schon sehen, alles, was wir heute haben – unsere direkte Demokratie, die Institutionen –, das kommt aus dem Jahr 1848. Diese Dinge prägen unsere Leben direkt. Und daher ist es ein wichtiger Moment, auch daran zu denken, was es damals in sehr schwierigen Zeiten nach einem Bürgerkrieg für Mut und Zuversicht gebraucht hat, diese starken Institutionen zu schaffen. Heute erleben wir Krieg in Europa, Energie- und Klimakrise, Inflation.

Es braucht einen Fortschrittsglauben, Öffnung und Bewegung.

Es geht darum, nie zu vergessen, dass wir unsere gute Situation grossen Investitionen unserer Vorgänger und Vorgängerinnen verdanken und dass wir auch in schwierigen Zeiten in die Zukunft investieren sollten. Es braucht einen Fortschrittsglauben, Öffnung und Bewegung. Wir müssen bereit sein, uns zu bewegen – die Institutionen, aber auch die Gesellschaft generell.

Wenn Sie dem Zustand der Schweiz eine Note zwischen eins und zehn geben müssten, welche Note würden Sie geben?            

Man sagt über die Schweiz, dass, wenn wir jammern, wir auf sehr hohem Niveau jammern. Ich glaube, das stimmt, aber damit ist nicht alles gesagt. Es gibt auch bei uns Ungleichheiten, die wachsen. Es gibt auch bei uns für gewisse Kreise der Bevölkerung Zugangsprobleme zu Kultur, Bildung, Ausbildung, vielleicht sogar zur Gesundheit. Aber generell, sie haben nach einer Note gefragt – vielleicht eine sieben.

Trotz CS-Untergang, der fast die Weltwirtschaft in eine Krise gestürzt hat, trotz Neutralität, die eigentlich niemand versteht ausserhalb der Schweiz?

Die CS-Übernahme wurde gelöst, und ich glaube, nicht so schlecht. Wir haben gesehen, dass wir auch handlungsfähig sind. Der zweite Punkt Neutralität: Ja klar, es gibt Diskussionen und Reibungen. Die Position der Schweiz hat eine sehr lange Tradition, was aber nicht bedeutet, dass man da nichts bewegen soll oder kann. Im Gegenteil.

Wir dürfen selbstbewusst und auch stolz sein.

Wir dürfen selbstbewusst und auch stolz sein. Die Neutralität, Genf, der Multilateralismus, die Rolle der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat funktionieren sehr gut. Es braucht die Schweiz international, und das ist auch in unserem Interesse.

Welches sind für Sie die drei grössten Herausforderungen für die Schweiz?

Ich glaube, die grösste Herausforderung ist sehr wahrscheinlich, offenzubleiben. Zuversicht ist auch Erfolg in der Zukunft. Zweiter Punkt sind die direkten Kontakte und Begegnungen in der Schweiz. Der 1. August ist daher sehr wichtig. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht einfach nur in Bubbles diskutieren. Denn wir leben zusammen. Und drittens: Wir müssen die Jugend im Zentrum der Überlegungen für die Zukunft platzieren. Wir müssen zeigen, dass wir jetzt bereit sind, für diese Generationen zu investieren.

Aber man hat schon auch das Gefühl, dass eine gewisse Spaltung in der Gesellschaft da ist.

Hier muss man aufpassen. Diese Spaltung der Gesellschaft ist öffentlich hochstilisiert worden. In Bezug auf die Pandemie hatten wir dreimal eine Volksabstimmung, dreimal ein sehr klares Resultat.

Die Gesellschaft ist viel weniger gespalten, als man denkt.

Die Gesellschaft ist viel weniger gespalten, als man denkt. Ich würde nicht sagen, dass es gar keine Probleme gab. Im Gegenteil, ich weiss, wie brutal es war. Aber wir haben es gemeistert. Nicht alle waren froh, aber wir haben gesehen, dass der Bundesrat auch reagieren kann.

Was funktioniert gut und was funktioniert nicht gut im Bundesrat?

Der Bundesrat ist ein Organismus. Wir sind sieben Personen sowie ein Bundeskanzler und zwei Vizekanzler. Persönlich unter uns funktioniert es gut. Aber klar, es gibt auch einfach politische Unterschiede. Das ist auch so gewollt.

Die Frage ist, wie gut der Bundesrat funktioniert, wenn diese politischen Unterschiede da sind.

Ich glaube, der beste Beweis dafür sind die letzten vier Jahre. Niemand hat erwartet, dass wir bei der Pandemie so viel Verantwortung übernehmen müssen. Und bei der CS-Übernahme: Es war notwendig, sehr rasch zu handeln und zu zeigen, wohin die Reise geht. Es hat funktioniert. Es braucht einfach eine gute Zusammenarbeit und Respekt, auch in schwierigen Zeiten.

Schauen wir doch noch in Ihre Zukunft. Was machen Sie nach dem Bundesrat?

Ich weiss es nicht. Und wissen Sie, es ist vielleicht auch ein Privileg, für einmal diese Möglichkeit zu haben, einfach nicht zu wissen, was kommt. Ich brauche auch ein bisschen Zeit. In diesen 12 Jahren habe ich 29 Abstimmungen als Bundesrat mitgemacht. Niemand im Bundesrat hat jemals so viele Abstimmungen gehabt, seit der Gründung des Bundesstaates. Ich brauche jetzt auch Entspannung, und dann sehen wir weiter.

Das Gespräch führte Urs Leuthard.

Tagesschau, 31.07.2023, 19:30 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel