SRF: Sie haben sich seit dem Rücktritt von Bundesrat Didier Burkhalter bedeckt gehalten. Erst heute haben Sie offiziell gesagt: Ja, ich will. Mussten Sie wirklich überlegen oder war das reine Taktik?
Ignazio Cassis: Nein, ich musste tatsächlich überlegen, vor allem privat, familiär, beruflich. Es gab viele Dinge, die abgeklärt werden mussten. Ich musste auch mit meiner Frau klären, ob ich, beziehungsweise wir gemeinsam, diesen Weg gehen wollen. Und das hat diese Zeit gebraucht.
Der Vorstand hat zwar nur Sie nominiert, aber der Tessiner Finanzdirektor Christian Vitta würde auch sehr gerne Bundesrat werden. Sind Sie sicher, dass Sie der einzige Tessiner Kandidat bleiben?
Das weiss ich noch nicht. Die Entscheide des Vorstands sind strategischer Natur. Ich war in diese Entscheide nicht involviert. Definitiv wird die Nominierung erst am 1. August. Wir werden also noch sehen, was bis am 1. August läuft.
Dass die lateinische Schweiz Anspruch auf einen Sitz hat, ist unbestritten. Viele hätten aber lieber eine Frau. Stehen Sie da nicht den Frauen im Weg?
Also ich kann sicher nicht Frau werden. Ich bin, was ich bin. Und wenn die Bundesversammlung eine Frau will, wird sie auch diese Wahl haben können.
Momentan gibt es das grosse Projekt Rentenreform. Sie bekämpfen diese und haben damit Kritik von Mitte-Links kassiert. Müssen Sie als Bundesrats-Kandidat Ihre Position überdenken?
Bundesratskandidat werde ich erst nach der Nominierung. Und es ist tatsächlich so, dass wenn ich dann nominiert werde, nur ein Ziel und eine Priorität haben werde. Und die heisst: der 20. September (Tag der Bundesratswahl, Anmerkung der Redaktion). Ich werde also alle anderen Tätigkeiten sicher aufgeben. Die Position bleibt die gleiche: Ich denke immer noch, dass die Reform nicht der richtige Weg ist. Und daran ändert meine Kandidatur nichts.
Sie lobbyieren für Krankenkassen, sind Präsident des Krankenkassenverbandes Curafutura. Angenommen, Sie würden gewählt und würden einst das Gesundheitsdepartement übernehmen. Könnten Sie da wirklich unabhängig agieren?
Ich denke schon. Es ist absolut normal, dass in einem Milizparlament jedes Mitglied auch berufliche Tätigkeiten ausübt. Ich bin ein Arzt. Also ist es ziemlich normal, dass ich im Gesundheitswesen tätig bin. Ich war Lobbyist der Ärzte, ich bin Lobbyist der Altersheime, Lobbyist der Krankenkassen. Aber all diese Tätigkeiten hören sofort auf, sobald man in den Bundesrat gewählt wird.
Sie sind bis jetzt einziger Kandidat. In den nächsten Wochen werden Sie durchleuchtet bis ins letzte Detail. Die rasante Fahrt auf der Autobahn mit 170 Kilometer pro Stunde wurde schon aufgewärmt, wollen Sie sonst noch etwas beichten?
Nein. Ich glaube, es hat nicht vieles, das ich verstecken kann. Was ich in den letzten Jahren gemacht habe, ist bekannt. Meine Interessenbindungen sind bekannt und im Internet. Wie viel ich als Verbandspräsident von Curafutura verdiene, ist bekannt. Ich weiss nicht, was man mehr über mich wissen kann. Aber ich lasse mich gerne noch überraschen.
Sie haben einmal in einem Interview gesagt: Ich möchte auch ein Leben neben der Politik. Nun ist Ihr möglicher Vorgänger Burkhalter zurückgetreten, weil Bundesrat sein wie eine zweite Haut sei. Wie wollen Sie das zusammenbringen?
Das ist tatsächlich so, und das war auch der Grund dieser notwendigen Überlegungszeit. Ich finde die Aufgabe des Bundesrats derart spannend, ich liebe unser Land sehr und möchte diese Herausforderungen auf mich nehmen. Dass das natürlich mit Einschränkungen der Freiheit kommt, davon gehe ich aus. Aber ich glaube, es ist eben ein Entscheid, den man trifft, und dann muss man konsequent den Weg gehen.
Das Gespräch führte Andrea Vetsch.