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Chancengleichheit Stipendien: Wie die Schweiz den sozialen Aufstieg bremst

Tiefe Beiträge, starre Gesetze: Mängel im Stipendienwesen treffen kluge Kinder aus wenig vermögenden Familien.

«Ich bin dankbar, aber auch wütend. Weil es einfach zu wenig ist.» Mahela hat ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Stipendium. Sie braucht es zum Überleben, aber zum Leben reicht es nicht.

Mahela ist 22, angehende Zeichnungslehrerin und Stipendiatin des Kantons Schaffhausen. 400 Franken erhält sie im Monat. Ihre Eltern – er Automatiker, sie Pflegefachfrau – können sie kaum unterstützen. Deshalb arbeitet sie neben dem Vollzeit-Studium in drei Jobs.

«Wenn ich Studierende sehe, die ganz von ihren Eltern finanziert werden, sehe ich eine andere Welt», sagt Mahela. Eine Welt, in der genug Zeit zum Lernen, Studieren und für ein Sozialleben bleibt. Mahela steht derweil hinter einer Bar in der Zürcher Altstadt. Sie arbeitet lange, schläft wenig. «Irgendwann bist du einfach kaputt und kannst nicht mehr.»

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Gleich viel Geld für immer mehr Leute

50'000 Personen beziehen laut Bundesamt für Statistik (BfS) in der Schweiz Stipendien. Ein Drittel davon studiert, ein Drittel macht eine Lehre. Der Rest ist am Gymnasium, an einer Berufsschule oder in anderen Ausbildungsgängen.

In den letzten 50 Jahren haben sich die Ausgaben für Stipendien real nicht sehr stark verändert . Gleichzeitig machen immer mehr Leute eine Ausbildung. Das Resultat: Anteilsmässig erhalten immer weniger ein Stipendium. 1978 waren es noch 16 Prozent der Personen in Ausbildung. 2020 waren es 7 Prozent.

Der Stipendientopf ist also gleich gross geblieben, es müssten aber immer mehr daraus essen können. Eine Rechnung, die nicht aufgehen kann – und für die Schweiz zum Problem wird.

Herkunft statt Leistung

«Wir haben hier ein Potential an Fachkräften, das schlicht nicht ausgenutzt wird», sagt Katharina Maag Merki, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Zürich. Mehr als in anderen Ländern entscheidet in der Schweiz nämlich die familiäre Herkunft darüber, welche Ausbildung jemand macht – und nicht die Leistung.

Stipendien könnten daran etwas ändern. Aber nicht alle, die ein Stipendium bräuchten, erhalten auch eines. Von allen Studierenden, die ein Gesuch stellen, erhalten laut einer BfS-Befragung weniger als die Hälfte eine Zusage. Das gilt auch für Nichtakademikerkinder.

Statt Unterschiede auszugleichen, schafft das Stipendienwesen neue: solche zwischen den Kantonen. In Schaffhausen ist das Durchschnittsstipendium für Studierende doppelt so tief wie im Kanton Waadt. In Graubünden erhält jeder fünfte Student ein Stipendium, in Zug nicht einmal jeder zwanzigste.

Ein weiteres Problem: fehlende Planungssicherheit. Jedes Jahr müssen Stipendien neu beantragt werden. «Es ist jedes Mal dasselbe Loch, in das man hineinzufallen droht», sagt Stipendiatin Mahela. «Ein Nein würde heissten: noch mehr Arbeiten, weniger studieren.»

Oder irgendwann das Studium abbrechen: Bei jedem zehnten Abbruch sind laut einer BfS-Befragung finanzielle Probleme ein Grund, bei jedem fünften der Zwang, arbeiten zu gehen.

Starre Gesetze: Schuldenfalle Stipendium

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«Ich habe Schulden gemacht, ohne es zu wissen»: Biologin Andrea hat während ihres Studiums Stipendien bezogen. Jetzt muss sie 20'000 Franken wieder zurückzahlen. Der Grund: Sie hat zu viel gearbeitet. Andrea brauchte das Geld: Nur dank des Nebenverdienstes an der Coop-Kasse hat sie es überhaupt durch das Studium geschafft. Doch das Stipendiengesetz des Kantons Solothurn lässt dafür keinen Spielraum.

Andreas Fall verweist auf ein allgemeines Problem. «Die kantonalen Stipendiengesetze sind grundsätzlich sehr starr», sagt Studienberaterin Brigitte Ortega von der Universität Zürich. Immer wieder fielen Studierende deshalb durch die Maschen. «Studierende mit finanziellen Problem sind für uns eine tägliche Realität.»

Für Mahela sind Stipendien eine Investition, die sich lohnt: «Ich bin angehende Lehrerin und werde dem Staat und der Gesellschaft viel zurückgeben. Die Investition in unsere Zukunft ist sehr viel wichtiger als Geld sparen und zurückstecken.»

Aktuell bleiben die Beiträge jedoch tief, die kantonalen Unterschiede gross. Viele Gesuche werden abgelehnt. Gleiche Chancen bleiben in der Schweiz so eine Illusion.

Das sagen die Kantone

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Der Kanton Schaffhausen schreibt auf die Frage, ob man von seinen Beiträgen leben kann: «Stipendien haben eine subsidiäre Funktion. Wir gehen davon aus, dass es deshalb in keinem Kanton möglich ist, ausschliesslich von Stipendien den Lebensunterhalt zu bestreiten. Sollte jemand nicht in der Lage sein, mit den Eigenmitteln, Mittel der Eltern und Stipendien die Ausbildung und den Lebensunterhalt zu bestreiten, bietet der Kanton noch gegebenenfalls die Möglichkeit an, ein Darlehen zu beziehen.»

Der Kanton Solothurn schreibt zum Thema Rückzahlung von Stipendien: «Es ist nicht Ziel des Kantons Solothurn, Personen zu bestrafen oder in die Verschuldung zu führen, die während der Ausbildung einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Auf dem erzielten Erwerbseinkommen wird bei der Stipendienberechnung ein Freibetrag gewährt und nicht der vollständige Lohn angerechnet. Es besteht somit der Anreiz, neben der Ausbildung einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.» Das Stipendiengesetz werde aktuell in diesem Punkt überarbeitet.

Zu den allgemeinen Mängeln im Schweizer Stipendienwesen nimmt die Erziehungsdirektorenkonferenz im «Kassensturz»-Interview Stellung.

Kassensturz, 02.11.21, 21:05 Uhr

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