Ziemlich genau drei Jahre ist es her seit der Annahme der SVP-Initiative gegen Masseneinwanderung. Kaum eine Woche ist seither vergangen, da deren Umsetzung nicht Schlagzeilen gemacht hätte. Dies ganz besonders im Tessin, wo die Initiative einen rekordhohen Ja-Anteil erzielte. Ebenso wuchtig fiel vor vier Monaten auch die Zustimmung zur Initiative «Prima i Nostri» aus, welche den Inländervorrang auf kantonaler Ebene zusätzlich absichert.
Oscar Mazzoleni vom Observatorium für Regionalpolitik an der Universität Lausanne hat das Tessiner Abstimmungsverhalten bei der erfolgreichen SVP-Initiative «Prima i Nostri» und bei der gescheiterten linken Initiative gegen Lohndumping untersucht.
«Prima i Nostri»
Die Gesellschaft erscheine tief gespalten, sagt Mazzoleni nach Auswertung der bei über 1100 Personen durchgeführten und damit repräsentativen Befragung. Und zwar gespalten in politischer Hinsicht, aber auch sozial gespalten – mit Rissen im Arbeitsmarkt und mit polarisierten Ansichten über Grenzgänger und Ausländer. Es sei ein tiefer Riss durch die Gesellschaft, wie schon bei der Masseneinwanderungs-Initiative.
Weniger Gebildete und Einkommensschwache sorgten laut Mazzoleni für die vielen Ja-Stimmen bei «Prima i Nostri». Die politische Rechte vermochte ihre Anhängerschaft besonders stark zu mobilisieren.
Das bestätigten auch viele Kommentare nach dem Abstimmungssonntag. Besonders beliebte Statements: Politiker interessieren sich nicht für die Meinungen im Volk. Die Politik ist derart kompliziert, dass man sie kaum versteht.
Gewerkschaften besonders unter Druck
Ein Teil der Bevölkerung empfinde ein ausgeprägtes Misstrauen, sagt Mazzoleni. Das betreffe besonders die Arbeitgeberverbände, aber noch mehr die Gewerkschaften: 46 Prozent der Stimmbürger mit grossem Vertrauen zu Gewerkschaften stimmten der SVP-Initiative zu. Dies gegen die einhellige Wahlempfehlung ihrer Gewerkschaft, wie Paolo Locatelli von der christlich-sozialen OCST feststellt.
Das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften habe mit dem Abstimmungsthema zu tun. «Prima i Nostri» – Einheimische zuerst und das zulasten der Grenzgänger. Andere Argumente hätten es schwer gehabt.
Die Institutionen, denen Misstrauen entgegenschlage, müssten nun konkrete Lösungen vorlegen. Das wird nicht einfach. Denn die politische Rechte im Tessin fordert lautstark einen «Inländervorrang strong». Dieser darf aber juristisch gesehen nicht über den in Bern beschlossenen «Inländervorrang light» hinausgehen.
Gewerbe und Handel sind besorgt
Die Diskussion schaffe grosse Verunsicherung und Instabilität, beklagt der Direktor der Tessiner Handelskammer Luca Albertoni. Die politischen Spannungen seien Gift für die Wirtschaft.
Eine aktuelle Konjunkturumfrage der Handelskammer zeigt: Die Tessiner Exportwirtschaft hat ihren Output in den vergangenen 15 Jahren verdreifacht und kann sich auf konkurrenzstarken internationalen Märkten durchsetzen. Im Tessin herrscht faktisch Vollbeschäftigung.
Ein Paradox
Mazzolenis Umfrage spiegelt ein Paradox: 83 Prozent der Tessiner Stimmbürger stimmen zu, dass Grenzgänger einen wichtigen wirtschaftlichen Beitrag leisten. Trotzdem sind zwei Drittel der Stimmbürger überzeugt, dass der Grenzgänger-Anteil dem Wohlstand der Einheimischen schadet.