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Debatte um Mahnmal Nazi-Stein in Chur wühlt Politik auf

Jahrzehnte blieb der Gedenkstein unbemerkt. Doch seit den SRF-Recherchen schlägt das Thema auch politisch Wellen.

Letzte Woche hat SRF über einen erstaunlichen Fund im Kanton Graubünden berichtet: Auf einem Churer Friedhof steht unbemerkt von der Öffentlichkeit ein Nazi-Denkmal. Errichtet hat es vor dem Zweiten Weltkrieg eine damals nationalsozialistische Organisation. Die Recherche von SRF Investigativ in Zusammenarbeit mit dem SRF-Podcast «Zeitblende» wirft nun Wellen.

Auf dem Friedhof Daleu ist deutlich mehr los als sonst: «Wir waren gerade am Spazieren mit einem Freund, als er sagte: ‹Das Denkmal!› Und ich: ‹Komm, jetzt schauen wir es an›», erklärt eine Betrachterin des Steins.

«Man merkt es nicht. Man läuft einfach vorbei», meint ein Passant. «Ich bin gespannt, was damit geschieht.»

Der Nazi-Stein in Chur ist vermoost und schien vergessen. Doch das wirft Fragen auf: Wie verhielten sich damals die Behörden gegenüber den Nationalsozialisten? Warum steht das Propaganda-Denkmal ausgerechnet in Chur? Und wieso schaute bis heute niemand hin?

Fragen, die jetzt die Bündner Politik beschäftigen. Am Donnerstag tagte das Churer Stadtparlament. Parteiübergreifend und mit 19 von 21 Stimmen unterstützte der Rat einen Vorstoss des Mitte-Politikers und Historikers Tino Schneider. Neben einer wissenschaftlichen Aufarbeitung brauche es auch eine Kontextualisierung vor Ort, ist Schneider überzeugt.

«Wenn man diesen Stein ansieht, dann ist nicht klar, dass da eine nationalsozialistische Ideologie dahinter ist.» Wenn man bedenke, was für Gräueltaten die Nationalsozialisten verübt haben, müsse man auch vor Ort auf dem Friedhof diesen Bezug herstellen können.

Es ist wichtig, dass man da nicht einfach von einem harmlosen Gedenkstein spricht.
Autor: Tino Schneider Churer Gemeindrat (Die Mitte)

Darum sagt Schneider: «Es ist wichtig, dass man da nicht einfach von einem harmlosen Gedenkstein spricht.» Denn der Stein hätte eine viel weitergehende Bedeutung, als einfach an gefallene deutsche Soldaten des Ersten Weltkrieges zu erinnern.

Was bisher über das Denkmal bekannt war

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1998 verfasste der Kunsthistoriker Leza Dosch den ersten und bisher einzigen Bericht zum Denkmal auf dem Daleu-Friedhof im Auftrag der Stadt Chur.

Dosch führte damals ein Gespräch mit dem 84-jährigen Churer Bildhauer Enrico Arioli, der als Lehrling am Denkmal mitgearbeitet hatte. Arioli erzählte dem Kunsthistoriker vom Auftraggeber – dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Der tonnenschwere Granitblock sei in München bearbeitet worden, weil der Volksbund nicht zufrieden gewesen sei mit der Ausführung.

Am Rand erwähnte Dosch erstmals den Nationalsozialismus, weil ein Mitarbeiter der Firma Arioli in Chur als Nazi bekannt war. Er hatte den Auftrag vermittelt, die Bildhauerfirma habe seinetwegen Aufträge verloren. 

2021 publizierte der Historiker und frühere SRF-Journalist Hansmartin Schmid sein Buch «Churer Grabmäler». Darin enthalten ist auch das Denkmal als «Deutsches Kriegerdenkmal, 1914-1918». Schmid stützte sich auf den Bericht von Dosch.

Einer der beiden Politiker, die den Vorstoss im Churer Stadtparlament nicht unterstützt haben, ist Rainer Good. Eine Aufarbeitung werde keine neuen Erkenntnisse bringen, meint der FDP-Politiker.

Jetzt noch eine grosse Geschichte daraus zu machen, finde ich übertrieben.
Autor: Rainer Good Churer Gemeinderat (FDP)

Es sei bekannt, woher der Stein komme, was dieser bedeute und wie es dazu gekommen sei. «Jetzt noch eine grosse Geschichte daraus zu machen, finde ich übertrieben.» Good befürwortet eine Infotafel, aber sieht keine Notwendigkeit für eine Aufarbeitung.

Anders sieht das SP-Grossrätin und Historikerin Silvia Hofmann. Es gebe zwar Untersuchungen, doch die Forschungslücken zu dieser Zeit seien erheblich.

Wir müssen uns der Vergangenheit stellen.
Autor: Silvia Hofmann Bünder Grossrätin (SP)

«Wir müssen uns der Vergangenheit stellen. Wir haben nicht nur eine Geschichte während des Zweiten Weltkriegs, sondern auch eine davor», so Hofmann. Es sei wichtig, an die dunklen Zeiten zu erinnern – auch bei uns. Sie fordert von der Bündner Regierung eine umfassende historische Aufarbeitung und will dazu einen Vorstoss im Kantonsparlament einreichen.

Das Denkmal in Chur hat Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Zürich, überrascht. Gleichzeitig sei die späte Entdeckung auch keine Überraschung: Denn im Gegensatz zur Flüchtlingspolitik oder dem Raubgold in dieser Zeit gebe es zu den nationalsozialistischen Organisationen kaum schweizweite Forschungen.

«Es gab in der ganzen Nachkriegszeit bis zum Buch von Historiker Martin Bucher, das die nationalsozialistischen Jugendorganisationen untersucht, eigentlich keinen breit abgestützten Versuch, die Geschichte aufzuarbeiten», erklärt Tanner. Vielleicht ändere sich das jetzt, mit der Entdeckung des Denkmals in Chur.

Echo der Zeit, 03.02.2023, 18 Uhr

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