SRF News: Justizministerin Simonetta Sommaruga sprach gestern von einem wichtigen Tag für den Rechtsstaat und attestierte dem Stimmvolk demokratische Mündigkeit:
Wir haben den Rechtsstaat nicht weiterentwickelt, aber die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben ihn verteidigt.
Welche Bedeutung hatte dieser äusserst emotionale Abstimmungskampf?
Dominik Meier: Diese ungeheuer intensive Debatte um die Durchsetzungsinitiative spricht natürlich zuerst einmal für die direkte Demokratie. Nur hatte diese lebhafte Debatte eben auch ihren Preis. Es wurden Gräben zwischen konservativen und liberalen Schweizern aufgerissen und weiter vertieft. Und beide Seiten haben im Abstimmungskampf verbal massiv ausgeteilt. Sie haben sich zum Beispiel als «unschweizerisch» und «unmenschlich» betitelt. Es gab eine verbale Eskalation, ein Alles-oder-nichts in der Rhetorik. Bei allem Lob, das man jetzt für die intensive Debatte hört, darf das eigentlich nicht Standard werden. Der Stil beider Seiten hatte etwas problematisches.
Fast 59 Prozent der Stimmenden haben die Durchsetzungsinitiative abgelehnt. Trotzdem verschärft die Schweiz die Gangart bei den Ausschaffungen krimineller Ausländer. Denn nun kann ein neues Gesetz in Kraft treten, das die Ausschaffungsinitiative der SVP umsetzt. Knackpunkt ist die darin enthaltene Härtefallklausel. Wie wird sich diese auswirken?
Sie ist eine grosse Unbekannte. Die Richter können in Ausnahmefällen auf eine Ausschaffung verzichten, wenn ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt. Die Gerichte werden aber zuerst einmal festlegen müssen, was das überhaupt konkret heisst. Unklar ist auch ein weiterer Punkt in der Klausel: Das öffentliche Interesse an einer Ausschaffung soll Vorrang haben vor dem privaten Interesse eines ausländischen Straftäters. Das klingt kompliziert. Justizministerin Sommaruga folgert daraus, dass Schwerverbrecher niemals von der Härtefallklausel profitieren können, weil das öffentliche Interesse an einer Ausschaffung viel grösser sei. Bloss so explizit steht das nirgends geschrieben. Die Gerichte werden die Praxis festlegen müssen.
Zur Härtefallklausel sagte SVP-Präsident Toni Brunner am Abend, seine Partei werde genau hinschauen, wie sie angewendet wird:
Vergewaltiger, Mörder, Totschläger und so weiter müssen das Land – so will es auch die Verfassung – auf jeden Fall verlassen. Wir werden eine Strichliste machen. Jetzt, da unsere Initiative abgelehnt wurde, ist klar: Dieses Gesetz wird in Kraft treten. In ein paar Jahren wird man eine Bilanz ziehen können.
Die Abstimmungsgewinner sprechen von 4000 Ausschaffungen pro Jahr – also 4000 Strichen auf der Liste – mit dem neuen Gesetz. Ist das realistisch?
Ich finde es zumindest gewagt, eine genaue Zahl zu nennen, weil eben unklar ist, wie sich die Gerichtspraxis entwickeln wird. Klar ist aber, dass der politische Druck auf die Richter, dass sie hart sind und die Härtefallklausel wirklich nur in Ausnahmefällen anwenden, da ist. Das können die Gerichte nicht ignorieren. Aber es gibt ja auch noch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dorthin können Ausschaffungsentscheide weitergezogen werden. Schon heute ist es so, dass die Richter einzelne Ausschaffungsentscheide rückgängig machen. Mit einer härteren Gangart, und die wird es ja geben, dürfte das künftig häufiger geschehen.
Bei der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative bekämpften sich die beiden grossen bürgerlichen Parteien, SVP und FDP. Wird das beim Asylgesetz, über das wir als nächstes abstimmen werden, wieder so sein?
Es ist nichts Neues, dass die beiden Parteien sich in Ausländerfragen oder zum Beispiel auch in der Europapolitik nicht einig sind. Das war schon immer so und wird auch so bleiben. Es sind andere Bereiche, bei denen die beiden Parteien am gleichen Strick ziehen und wahrscheinlich mit ihrem Wahlsieg vom Herbst auch Änderungen bewirken können, etwa in der Energiepolitik oder in der Finanzpolitik.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.