Mario Gattiker prägte als Direktor des Staatssekretariats für Migration (SEM) zehn Jahre lang die Schweizer Asylpolitik. Ende 2021 trat er zurück. Nun äussert er sich erstmals zur aktuellen Situation im Schweizer Asylwesen.
SRF News: Die Stimmung in der Asylpolitik ist aufgeheizt. Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe dafür?
Mario Gattiker: Ich glaube, dass die aufeinanderfolgenden Krisenjahre eine grosse Rolle gespielt haben. Zuerst hatten wir Corona, eine besonders kritische Zeit für den Migrationsbereich, da Hygienemassnahmen in den Bundesasylzentren umgesetzt werden mussten. Dann folgte der Einmarsch Russlands in die Ukraine – ein Ereignis, das als Zeitenwende empfunden wurde und die Schweiz einem erheblichen Migrationsdruck aussetzte. All diese Faktoren haben, glaube ich, zur aktuellen Situation beigetragen.
Es ist offensichtlich, dass heute Menschen in den Asylstrukturen sind, die eigentlich nicht hier hingehören.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf in der schweizerischen Asylpolitik?
Es ist offensichtlich, dass heute Menschen in den Asylstrukturen sind, die eigentlich nicht hier hingehören. Das betrifft Personen, die zwar nicht schutzbedürftig sind, aber trotzdem Betreuung brauchen, sei es wegen sozialer Notlagen oder medizinischer Bedürfnisse.
Warum befinden sich solche Personen dann im Asylverfahren?
Die Frage, ob ein Asylanspruch besteht, wird nicht zu Beginn, sondern erst am Ende des Verfahrens geprüft – so sieht es das Gesetz vor. Das bedeutet, dass diese Personen schon im System sind und volle Unterbringung und Versorgung erhalten, bevor ihr Antrag geprüft wird.
Als ehemaliger Asylchef tragen Sie hierfür eine Mitverantwortung, oder?
Wir sehen heute, dass die Strukturen, die wir aufgebaut haben, eine Anziehungskraft auf Menschen ausüben, die eigentlich nicht in dieses System gehören. Unser Asylsystem hat eine zu grosse Anziehungskraft. Diese Möglichkeit haben wir bei der Konzeption des Systems nicht ausreichend antizipiert. Das sind die Lehren aus den heutigen Erfahrungen, die nun berücksichtigt werden sollten.
Der Bund hat kürzlich gegen den Willen einiger Kantone beschlossen, neun Asylzentren zu schliessen. Halten Sie diesen Entscheid für richtig?
Es scheint, dass Bund und zumindest einige Kantone hier nicht an einem Strang ziehen. Solche Situationen sollten jedoch gemeinsam beurteilt und entschieden werden, da dies meines Erachtens eine Frage der Kommunikation ist.
Das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen ist aufgrund des hohen Asyldrucks nicht mehr gut.
Wahrscheinlich hat der nötige Dialog in diesem Fall gefehlt. Ich stelle fest, dass das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen aufgrund des hohen Asyldrucks nicht mehr gut ist. Das muss sich verbessern. Denn die Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen, Gemeinden und NGOs ist eine Stärke unseres Systems – das hat sich bei der Ukraine-Krise gezeigt.
Sie haben in Ihrer langjährigen Tätigkeit als Migrationsexperte und Chef des Schweizer Asylwesens mehrere Krisen erlebt. Welche Lehren können aus all diesen Krisen gezogen werden?
Migration wird Europa weiterhin beschäftigen. Wir haben nicht nur die Konflikte an den Rändern Europas, sondern auch eine schwierige demografische Entwicklung in Afrika, Nahrungsmittelkrisen und zunehmende Umweltprobleme in vielen Ländern. All diese Faktoren treiben Menschen aus ihrer Heimat. Die Migrationspolitik kann dieses Problem nicht allein lösen, sondern lediglich einen Beitrag leisten.
Aus dem Tagesgespräch mit David Karasek, Mitarbeit: Géraldine Jäggi.