Die Bestätigung des ersten Corona-Falls der Schweiz liegt genau ein Jahr zurück. Mitte März 2020 verhängt der Bundesrat die ausserordentliche Lage. Der Shutdown stösst in der lateinischen Schweiz auf grosse Akzeptanz, denn die Pandemie ist im Tessin und in der Romandie früher präsent als in der Deutschschweiz. Laut der Corona-Umfrage der SRG vom März 2020 findet eine Mehrheit, der Bundesrat habe zu langsam reagiert; und in der Westschweiz hätte man gar noch einschneidendere Massnahmen befürwortet.
Deutschschweizer machen «Angst»
Entsprechend stösst es bei vielen Romands auf Skepsis, als im Frühling nach einigen Wochen erste Lockerungsschritte gemacht werden. Im Westschweizer Fernsehen RTS äussert eine Jurassierin in Zürich ihr Unbehagen ob dem Verhalten mancher Deutschschweizer: «Mir macht das oft Angst. Sie sind weniger vorsichtig als wir.» Diese Wahrnehmung teilen etwa auch die Neuenburger Behörden anlässlich des Ansturms von Deutschschweizer Besuchern beispielsweise auf den Creux du Van. Der Röstigraben wird zum Coronagraben.
Corona in der Romandie
In der zweiten Welle wendet sich das Blatt. Erneut steigen die Fallzahlen in der Westschweiz schneller an als in der Deutschschweiz. Die Romandie wird zum Hotspot. Nun fragen Deutschschweizer Medien: Was machen die Romands falsch? Wissenschaftliche Erklärungen für die Entwicklung fehlen, dafür schiessen Hypothesen ins Kraut. Ein Kommentator spricht gar von einer «Gefahr für die Schweiz».
Für Virginie Borel schwingt in solchen Erklärungen zur Gefahr der Menschen von der anderen Seite des Grabens vor allem eines mit: Klischees. Als Geschäftsführerin der Stiftung «Forum für die Zweisprachigkeit» in Biel bewegt sich Borel täglich an der Sprachgrenze. Es sei verständlich, dass in einer neuen, unbekannten Situation zunächst auf Vorurteile zurückgegriffen werde. «Sobald wir uns nicht einig sind, denkt man, es sei wegen des Röstigrabens – oder eben, des Coronagrabens.» Tatsächlich hätten sich viele Romands zunächst schuldig gefühlt wegen der ihnen zugeschriebenen «lateinischen Lebensart», dem taktileren Umgang miteinander.
«Vor dem Virus sind alle gleich»
Die Pandemie habe aber eines gezeigt: «Vor dem Virus sind alle gleich», so Borel. Denn bald seien die Zahlen ja auch in anderen Regionen wieder angestiegen. Borels Hoffnung ist, dass Deutsch- und Westschweizer nach einem Jahr Corona gelernt hätten, dass Schuldzuweisungen nichts bringen. «Wir müssen einig sein und zusammen gegen das Virus kämpfen.»
Gemäss Virginie Borel habe das Thema Corona zwar alte Klischees hervorgebracht, aber es habe die Schweizer einander auch nähergebracht. Nicht zuletzt im Sommer, als viele ihre Ferien auf der anderen Seite der Sprachgrenze machten. Dabei komme es zumindest für Romands zwar immer wieder zu Herausforderungen, etwa wenn statt Hochdeutsch Mundart gesprochen werde: «Das ist nicht immer einfach», gibt Virginie Borel zu. Aber die Auseinandersetzung mit den Menschen auf der anderen Seite der Sprachgrenze sei spannend. Corona zwingt Deutsch- und Westschweizer dazu, sich ihr zu stellen.