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Ein Jahr nach Systemwechsel Es harzt noch beim leichteren Zugang zur Psychotherapie

Psychologinnen und Psychologen mit Psychotherapie-Weiterbildung dürfen neu direkt über die Grundversicherung abrechnen. Die erste Bilanz fällt gemischt aus.

Seit rund einem Jahr können Hausärztinnen und Hausärzte eine Psychotherapie anordnen – ähnlich wie bei der Physiotherapie. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten. Sind mehr als 30 Therapiesitzungen nötig, braucht es die Zustimmung eines Psychiaters oder einer Psychiaterin.

Patientin bei Psychotherapeut (Symbolbild)
Legende: Vor dem Wechsel übernahmen die Grundversicherung die Therapien von Psychologinnen und Psychologen nur dann, wenn sie in der Praxis einer Psychiaterin oder eines Psychiaters angestellt waren. Keystone/Christian Beutler

Es gibt unterschiedliche Stimmen dazu, wie der Wechsel angelaufen ist. So kursieren auch Beispiele von Patientinnen, die keinen Therapieplatz finden oder von Patienten, die für Psychopharmaka auf gut Glück Psychiater kontaktieren. Diese Beispiele sollen belegen, dass sich die Situation nicht zum Besseren verändert hat.

Bedarf übersteigt weiter das Angebot

Philippe Luchsinger, Präsident der Haus- und Kinderärzte, begleitet die Umsetzung des Wechsels in einer Arbeitsgruppe. Aus seiner Praxis kennt er keine solchen Beispiele.

Luchsinger sagt: «Wir haben nun mehr Plätze und besseren Zugang. Das Problem ist aber, dass der aktuelle Zugang noch immer nicht reicht. Der Bedarf an Plätzen ist weiterhin sehr viel grösser als das Angebot – trotz der Erweiterung und trotz mehr Therapeutinnen und Therapeuten.»

Vom Delegations- zum Anordnungsmodell

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Das Delegationsmodell : Vor dem Wechsel bezahlten die Krankenkassen Psychotherapien von Psychologinnen und Psychologen nur unter der Bedingung, dass diese in der Praxis eines Psychiaters oder einer Psychiaterin angestellt waren, sie arbeiteten sogenannt delegiert .

Das hatte den Nachteil, dass der Zugang zu einer Psychotherapie so beschränkt war. Es hatte aber den Vorteil, dass die beiden Fachrichtungen eng zusammenarbeiteten.

Psychotherapien bei freischaffenden Therapeutinnen und Therapeuten mussten damals über eine Zusatzversicherung oder aus der eigenen Tasche bezahlt werden.

Das Anordnungsmodell : Seit dem Wechsel können Hausärztinnen und Hausärzte eine Psychotherapie anordnen – ähnlich wie bei einer Physiotherapie. Die Kosten trägt die Krankenkasse. Sind mehr als 30 Therapiesitzungen nötig, braucht es die Einschätzung eines Psychiaters oder einer Psychiaterin. Wenn auch diese zum Schluss kommt, es braucht weiterhin eine Therapie, kann sie weiter gehen – zulasten der Grundversicherung.

Inzwischen rechnen ein paar tausend psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten direkt über die Krankenkassen ab. Ein grösseres Angebot bedeutet auch mehr Kosten – damit war zu rechnen. Dennoch sorgt sich der Krankenkassenverband Santésuisse jetzt schon wegen des klaren Kostenanstiegs.

Der Wechsel zum Anordnungsmodell ist ein grosser Einschnitt und deshalb auch verbunden mit verschiedenen Schwierigkeiten.
Autor: Thomas Christen Vizedirektor Bundesamt für Gesundheit

Beim Bundesamt für Gesundheit will Vizedirektor Thomas Christen zwar nicht von einer überhasteten Einführung sprechen, beschönigt aber nicht: «Der Wechsel zum Anordnungsmodell ist ein grosser Einschnitt und deshalb auch verbunden mit verschiedenen Schwierigkeiten.» Verschiedene Krankenkassen des Verbandes Santésuisse weigerten sich, die Leistungen von Angestellten zu bezahlen, die noch in Weiterbildung sind. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) intervenierte.

Bei einem Systemwechsel dauere es immer eine gewisse Zeit, bis alles geklärt sei, stellt Pius Zängerle fest. Er ist Direktor bei curafutura, dem anderen Krankenkassenverband. «Wir bezahlen und akzeptieren die Psychologinnen und Psychologen in Weiterbildung, das läuft gut. Wir haben aber noch viel Arbeit vor uns.» Das sei jedoch für den Beginn des Systemwechsels auch zu erwarten gewesen.

Zwist um Fallprüfungen durch Psychiater

Vonseiten der Psychologinnen und Psychologen gibt es zudem Kritik an der Fallprüfung durch Psychiaterinnen und Psychiater bei langwährenden Therapien:

Wer macht die Fallbeurteilung nach 30 Sitzungen?

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Der Verband der Psychologinnen und Psychologen kritisiert, seine Mitglieder fänden keine Psychiaterinnen und Psychiater für die nunmehr notwendigen Fallprüfungen. Yvik Adler, Co-Leiterin des Berufsverbandes FSP, möchte deshalb ganz darauf verzichten: «Aus unserer Sicht ist das eine grössere Hürde, gerade bei chronischen und schwereren Erkrankungen. Es ist fachlich unnötig und verursacht noch mehr Kosten. Zudem ist es wegen des Psychiatermangels nicht praktikabel.»

Dem widerspricht der Berufsverband der Psychiaterinnen und Psychiater in einer schriftlichen Stellungnahme. Es treffe nicht zu, dass sich niemand finden liesse. Und: «Dabei wird nie berücksichtigt, dass eine psychologische Psychotherapie längst nicht immer ausreicht und gerade bei schwereren Erkrankungen medizinisches Wissen und andere Behandlungsformen als eine Psychotherapie notwendig sind.»

Das BAG will die Fallprüfung beibehalten. Die Rollenteilung vor dem Wechsel hatte den Nachteil, dass der Zugang zu einer Psychotherapie beschränkt war. Sie hatte aber den Vorteil, dass die Fachleute von Psychologie und Psychiatrie in der Praxis eng zusammenarbeiteten.

Philippe Luchsinger von den Haus- und Kinderärztinnen und -ärzten will hier anknüpfen: «Das Wichtigste ist, dass wir Netzwerke bilden: Sei es von Grundversorgern, Hausärzten und Kinderärztinnen, mit den Psychologinnen und mit den zuständigen Psychiatern.» So, dass die Patientinnen und Patienten dann ohne Rivalitäten der Beteiligten tatsächlich eine gute Versorgung für die psychische Gesundheit erhalten.

Echo der Zeit, 06.07.2023, 18 Uhr

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