Vor 40 Jahren verschwand in einem Walliser Dorf ein kleines Mädchen: Sarah Oberson. Bis heute fehlt von ihr jede Spur.
Sie war nicht das erste Kind, das in den 1980er-Jahren verschwand – und leider auch nicht das letzte. Insgesamt wurden in diesem Jahrzehnt 21 Kinder und Jugendliche mutmasslich entführt und getötet. Rund die Hälfte dieser Fälle bleiben bis heute ungeklärt.
Die Kantonspolizei Wallis teilt auf Anfrage von SRF mit, dass sie im Fall Sarah Oberson weiterhin ermittelt. Innerhalb der Kriminalpolizei wurde dafür eine spezielle Ermittlungsgruppe gebildet, die auch moderne Technologien einsetzt.
Eigentlich verjährt Mord in der Schweiz nach 30 Jahren. Ab diesem Zeitpunkt dürfen die Behörden nicht weiter ermitteln. Warum also geht die Walliser Polizei im Fall Sarah Oberson trotzdem noch Spuren nach?
Mehr Spielraum bei Vermissten
«Die Polizei darf Hinweise entgegennehmen und diesen auch nachgehen, einfach nicht im Rahmen eines formellen Strafverfahrens», sagt Christoph Ill, Präsident der Schweizerischen Staatsanwaltschaftskonferenz.
Laut dem Polizeirechtsexperten Patrice Zumsteg von der ZHAW ist der Spielraum bei Vermissten grösser: «Die Polizei klärt nicht nur Straftaten auf, sie hat auch Sicherheitsaufgaben.» Und im Rahmen dieser Sicherheitsaufgaben dürfe sie nach vermissten Personen suchen. «Anders wäre es, wenn ihre Leiche gefunden würde und Spuren eines Tötungsdelikts aufwiese – dann wäre es eine Straftat und die Polizei dürfte heute nicht mehr ermitteln.»
Auch die Konferenz der kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten teilt mit, die Polizei könne Ermittlungen wieder aufnehmen, um den Angehörigen von Vermissten Antworten zu geben – unabhängig von der Verjährung.
Vermisst oder ermordet?
Die Unterscheidung zwischen einem Kriminalfall, bei dem die Polizei nach Ablauf der Verjährungsfrist nicht weiter ermitteln darf, und einem Vermisstenfall, dessen Akten dauerhaft offenbleiben, ist laut Zumsteg sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis umstritten. «Gibt es einen Anfangsverdacht für eine Straftat?» Diese Frage sei entscheidend, aber nicht immer einfach zu beantworten.
Bei den Kindsentführungen der 1980er-Jahre dürfte ausschlaggebend sein, ob eine Leiche gefunden wurde. «So schlimm es für die betroffenen Familien natürlich ist, gibt es bei diesen Kindern tatsächlich zwei Kategorien: die Vermissten und die Gefundenen», so Zumsteg.
Bei den gefundenen Kindern sei recht klar, dass sie ermordet wurden. «Deshalb gelten die Verjährungsfristen», so Zumsteg. Bei den vermissten Kindern hingegen könne man nicht ausschliessen, dass sie verunfallt oder weggelaufen seien – oder noch lebten.
Zumsteg hat Verständnis dafür, dass manche Familien der getöteten Kinder sich wünschten, auch bei ihrem Kind würde weiter ermittelt. «Sie wollen wissen, wer ihr Kind umgebracht hat.» Allerdings hätten sie wenigstens – so schlimm das auch sei – ihr Kind beerdigen können. «Die Familien der Vermissten fragen sich wohl: Lebt mein Kind noch? Laufe ich ihm über den Weg? Erkenne ich es dann?»
Die Ungewissheit sei noch grösser, deshalb findet es Zumsteg gerechtfertigt, dass die Polizei trotz Verjährung weitersuchen darf. Auch die Kantonspolizei Wallis sagt: «Wir ermitteln weiter, um der Familie von Sarah eine Antwort zu geben.»