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Erblindung nach 1.-Mai-Demo Gummischrot: Petition fordert ein Verbot – die Polizei wehrt sich

Andere Länder kennen es bereits – nun fordern Tausende Unterzeichnende ein Gummischrot-Verbot für die Schweiz.

Ein schweizweites Verbot des Einsatzes von Gummigeschosswaffen – das fordert eine neue Petition. Diese wurde am vergangenen Mittwoch mit über 6400 Unterschriften bei der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) eingereicht.

Urheber der Petition ist Iared Camponovo von der Bürgerinnen- und Bürgerbewegung Campax. «Nachdem ein junger Mann am 1. Mai in Zürich das Augenlicht verloren hat, habe ich mich entschieden, endlich etwas dagegen zu tun», sagt Camponovo.

Der Fall in Zürich ist kein Einzelfall. In einem im Mai veröffentlichten Artikel einer Schweizer Fachzeitschrift für Augenmedizin «Ophta» hat die Zürcher Augenärztin Anna Fierz alle öffentlich bekannt gewordenen Schweizer Fälle gesammelt, bei denen Personen durch Gummischrot Verletzungen am Auge erlitten.

Fakten zu Gummischrot

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Gummigeschosse werden von den allermeisten grösseren Schweizer Polizeikorps eingesetzt. Bei einer umfangreichen Recherche der «Republik» bestätigten 24 von 26 Kantonen deren Einsatz. Graubünden und Schaffhausen gaben keine Auskunft.

Hierzulande werden drei Arten von Gummischrot gebraucht: Am häufigsten werden 10 Gramm schwere, sechseckige Prismen mit einer Länge von 27 Millimetern (35 Stück pro Schuss) verschossen. Daneben gibt es ein rund einen Zentimeter kleineres, 8.7 Gramm schweres Pendant (28 Stück pro Schuss). Schliesslich gibt es noch kleinere, 2.6 Gramm schwere Kugeln mit 15 Millimeter Durchmesser.

Jüngst werden auch sogenannte Wuchtgeschosse eingesetzt. Diese Projektile, die in Form und Grösse an einen Golfball erinnern, werden einzeln verschossen. Sie enthalten im Vergleich zu einzelnen Schrotprojektilen aber ein Vielfaches an Energie.

Seit 1980 sind es 30 Fälle – einer kam nach Veröffentlichung des Fachartikels noch dazu. In elf davon sind die Betroffenen auf einem Auge erblindet. Blind heisst nach Definition der Weltgesundheitsorganisation, dass die Sehschärfe eines Auges unter fünf Prozent liegt. Die Getroffenen waren mehrheitlich junge Menschen, die sich in einer Fanszene bewegten oder an unbewilligten Demos teilnahmen. Manchmal wurden aber auch Unbeteiligte mit Gummi getroffen.

Problem der Streuung

Der Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten der Schweiz (KKPKS), Mark Burkhard, räumt ein, dass es beim Einsatz von Gummischrot zu Verletzungen kommen kann – auch bei Unbeteiligten. «Wenn man eine Waffe einsetzt, dann nimmt man grundsätzlich Verletzungen in Kauf.»

Die Polizei würde die Schrotwerfersysteme aber nur einsetzen, um bei einer gewalttätigen Demonstration die nötige Distanz zu den Ordnungskräften zu schaffen oder Gruppierungen voneinander zu trennen, sagt Burkhard. Dabei existiere eine Mindesteinsatzdistanz – je nach Werfersystem zwischen fünf und 20 Metern. Zudem seien die Polizeikräfte geschult, auf Gurthöhe zu zielen.

Ein Mann wird von Ordnungskräften mit Gummischrot beschossen.
Legende: Die Projektile spicken vom Boden auf. (Im Bild: 1.-Mai-Demo in Zürich im Jahr 2009.) KEYSTONE/Ennio Leanza

Da sich aber die Projektile bei einem Abschuss von Gummischrot in einem Kegel ausbreiten, könne es sein, dass jemand am Kopf getroffen wird, sagt Burkhard. Hinzu kommt, dass die Polizei die empfohlene Mindestdistanz unterschreiten darf, wenn eine Notwehr- oder Notwehrhilfesituation vorliegt. Wie die «Republik» berichtete, ist dies relativ schnell der Fall.

Ist ein Mindestabstand überhaupt sinnvoll?

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Der Mindestabstand zum Einsatz von Gummischrot orientiert sich an einem Wert, der aussagt, ab welcher Distanz ein Geschoss nicht mehr die Wucht hat, ins Gewebe einzudringen. Gemäss Fierz' Fachartikeln ergibt es keinen Sinn, einen Grenzwert für eine penetrierende Verletzung zu definieren, da schwerste Schäden bis hin zu einer bleibenden Erblindung möglich seien, ohne dass das Geschoss ins Auge eindringe.

Wenn der Mindestabstand und damit der Grenzwert eingehalten werde, platze zwar das Auge des Getroffenen nicht, sagt Augenärztin Fierz. Eine reine Prellung reiche aber, damit ein Auge erblinden kann. «Jede schwere Prellung ist der Anfang einer Patientenkarriere», so die Augenärztin. «Teils ringt man mit vielen Operationen um kleinste Sehreste.»

Polizei ohne Gummischrot?

Was aber, wenn das Gummischrot-Verbot Realität wird? Es sei natürlich die Politik, die entscheidet, welche Mittel die Polizeikräfte einsetzen können, betont Burkhard.

Verbot von Gummischrot in europäischen Staaten

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Viele Länder, darunter Österreich, Finnland, Dänemark, Norwegen, Schweden sowie die Mehrheit der deutschen Bundesländer, haben den Gebrauch von Gummigeschossen bereits untersagt.

Die Polizei setze immer das schwächst-mögliche, aber noch erfolgreiche Mittel ein, sagt Burkhard. Wenn sie kein Gummischrot mehr hätte, müsste man es machen wie in Deutschland, wo «Hundertschaften» gegen Demonstrierende vorgehen. Das seien sehr grosse und teure Einsätze.

Auch Wasserwerfer mit oder ohne Tränengas wären – aber nur unter gewissen Umständen – geeignet. Eine weitere Möglichkeit wäre, mit Schusswaffen auf Demonstrierende zu schiessen, was Burkhard entschieden ablehnt.

10vor10, 03.07.2023, 21:50 Uhr

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