Noch riecht es in diesem stattlichen Bauernhaus nach frisch gestrichenen Wänden und geöltem Parkett, hier fehlt noch ein Wasserhahn, dort stehen noch Kisten herum. Es sind diese Tage zwischen Ruhe und Sturm, kurz bevor etwas Neues beginnt.
Am 13. August eröffnet die Stiftung Allani in Riedbach bei Bern das erste Kinderhospiz der Schweiz – nach achtjähriger Aufbauarbeit. Dieses bietet Familien mit einem schwerkranken Kind wochenweise Entlastung, etwa in einer krisenhaften Situation oder als Übergang nach langen Spitalaufenthalten. Und: Es unterstützt Familien, die ein Kind in den Tod begleiten.
Darum soll das komplett umgebaute Bauernhaus schon bald vor allem eines verströmen: Geborgenheit.
Leben mit lähmender Ungewissheit
Eine der ersten Familien, die ins Kinderhospiz einziehen werden, sind Oxana und Urs Rindisbacher mit Tochter Xenia. Die Neunjährige ist mehrfach behindert. Sie kann nicht laufen, nicht sprechen, nicht selbständig essen, nicht trinken. Ihre Eltern müssen sie rund um die Uhr pflegen.
Auf den ersten Blick sieht man Oxana und Urs Rindisbacher nicht an, wie viel Kraft sie diese Aufgabe kostet. Sie lacht gerne, er witzelt gerne.
«Mit vier Jahren hatte Xenia ihren ersten Epilepsie-Anfall», erzählt Oxana Rindisbacher. Im Spital wurde sie mit verschiedenen Medikamenten behandelt, aber keines schlug an. Als Xenia vier war, kam die Diagnose: seltener Gendefekt. «Ab dann war es für uns einfacher, die Situation zu akzeptieren», sagt Rindisbacher. Nur: Wie die Krankheit verläuft und welche Lebenserwartung Xenia hat, das können nicht einmal Fachpersonen sagen. Für die Rindisbachers bedeutet das ein Leben mit lähmender Ungewissheit.
Es bringt Xenia nichts, wenn wir körperlich und psychisch an den Anschlag kommen.
In den ersten Jahren stemmten Oxana und Urs Rindisbacher die Betreuung von Xenia alleine. Doch die schlaflosen Nächte machten ihnen zunehmend zu schaffen. Darum gaben sie ihre Tochter für mehrere Nächte in eine Institution. «Wir konnten richtig Kraft tanken und merkten: Es bringt Xenia nichts, wenn wir körperlich und psychisch an den Anschlag kommen.»
Heute wohnt Xenia mehrere Tage die Woche in einer Institution, den Rest verbringt sie zu Hause. «Für uns ist das ein guter Weg», sagt Urs Rindisbacher.
Versorgungslücke schliessen
Und doch gerät die Familie immer wieder an ihre Grenzen, etwa wenn Xenia nach einem grösseren Eingriff im Spital nach Hause kommt und intensive Pflege benötigt. Als Xenia beispielsweise an der Hüfte operiert wurde, brauchte es über längere Zeit stets beide Elternteile, um sie zu mobilisieren. «Wir konnten uns fast nicht organisieren, weil wir ja auch noch arbeiten mussten», sagt Oxana Rindisbacher.
Bislang fehlte in der Schweiz ein Angebot, das die Geborgenheit eines Zuhauses mit der medizinischen Sicherheit eines Spitals verbindet. Genau diese Versorgungslücke will das Kinderhospiz Allani künftig schliessen. Geschäftsführer André Glauser sagt: «Spitex-Organisationen kommen ein, zwei Stunden nach Hause, aber Kinder wie Xenia brauchen rund um die Uhr Pflege – diese Intensität kann ein Familiensystem zum Kollabieren bringen.» Darum sei es wichtig, dass Eltern für eine gewisse Zeit entlastet würden.
Ab nächster Woche stehen im ehemaligen Bauernhaus vier Pflege- und vier Familienzimmer zur Verfügung. Hinzu kommen eine Küche, ein Wohn- und ein Spielzimmer und ein weitläufiger Garten. Für die Eltern und Geschwister gibt es im umgebauten Stöckli zusätzlich vier Schlafzimmer.
Für Ferien fehlt die Zeit und das Geld
Pro Jahr kann das Kinderhospiz rund 150 Familien aufnehmen. «Wenn man bedenkt, dass es in der Schweiz 10'000 Kinder mit einer lebensverkürzenden Erkrankung gibt, ist das ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt André Glauser. Andererseits wisse man noch nicht, wie Eltern auf dieses Angebot ansprechen. «Aber das Bedürfnis ist klar vorhanden.»
«Für uns eröffnet das Kinderhospiz ganz neue Möglichkeiten», sagt Urs Rindisbacher. Durch Xenias Erkrankung können die Eltern nur Teilzeit arbeiten – sie im Controlling, er als Briefträger – und sind darum finanziell eingeschränkt. Zwar erhalten sie von der IV eine Hilflosenentschädigung und einen Intensivpflegezuschlag. Aber für Ferien reicht das Budget nicht. Bis jetzt. Denn: Während ihre Tochter im «Allani» weilt, werden Oxana und Urs Rindisbacher eine Woche in Griechenland verbringen – dank Spenden der Allani-Stiftung.
Finanzierung bis Ende 2025 gesichert
Das Kinderhospiz ist zu 100 Prozent aus Spenden finanziert, über Stiftungen, Unternehmen und Privaten. Denn anders als in den meisten anderen europäischen Ländern sind Hospize in der Schweiz nicht gesetzlich verankert. Das bedeutet: Die Kantone sind nicht verpflichtet, finanzielle Beiträge zu leisten.
«Positiv ist, dass wir eine Bewilligung als Spitex-Organisation haben», sagt André Glauser. «Wir werden pflegerische Leistungen im Minuten-Tarifen abrechnen können.» Doch der Geschäftsführer geht davon aus, dass dadurch höchstens 30 Prozent der Betriebskosten gedeckt werden können. Familien, die ihre Kinder begleiten, bezahlen mindestens 50 Franken pro Tag für Kost und Logis.
Bis Ende 2025 ist die finanzielle Situation vom «Allani» laut André Glauser gesichert. «Diese Sicherheit ist vor allem auch für unsere Mitarbeitenden wichtig.» Jetzt sei man dran, Spenden für die darauffolgenden Jahre zu organisieren. «Aber in Zukunft sind wir darauf angewiesen, Gelder von der öffentlichen Hand zu erhalten.» Seine Hoffnung ist, dass der Bund in absehbarer Zeit die gesetzlichen Grundlagen schafft, damit Hospize finanziell nicht mehr zwischen Stuhl und Bank fallen.
25 Pflegefachpersonen werden ab nächster Woche im Kinderhospiz Allani tätig sein – die meisten Teilzeit. Hinzu kommen über 160 ehrenamtliche Freiwillige.
Diese werden sich vor allem um die Geschwister der schwerkranken Kinder kümmern, mit ihnen basteln, spielen oder Ausflüge unternehmen. «Die Geschwister kommen oft zu kurz», erklärt Glauser und zeigt auf den grossen Garten vor dem «Allani»-Haus: «Hier sollen sie unbeschwert herumtollen können.»
Leben bis zum letzten Atmenzug
Das Kinderhospiz soll ein Ort des Lebens werden – gerade weil die Lebenszeit für die Kinder, die hierherkommen, beschränkt ist.
Ich möchte, dass es auch in den letzten Momenten mit Xenia ums Leben geht, nicht ums Sterben
Oxana und Urs Rindisbacher haben sich schon früh Gedanken gemacht, wie das sein wird, wenn Xenia in die letzte Lebensphase kommt. «Ich möchte, dass es auch am Ende ums Leben geht, nicht ums Sterben», sagt Oxana Rindisbacher. Im Kinderhospiz Allani könne sie – wenn es soweit ist – die pflegerischen Massnahmen an Fachleute abgeben und sich ganz auf ihr Kind konzentrieren können.
«Es wird für uns sehr schwierig werden, das Ende zu akzeptieren», sagt Urs Rindisbacher. «Aber ich bin sicher, es hilft, wenn wir unsere Gefühle mit anderen teilen können.» Ein Gespräch mit Menschen, die das Gleiche durchmachen, sei unglaublich wertvoll.
Wer Oxana und Urs Rindisbacher zuhört, merkt: Die beiden sind mit wenig zufrieden, schätzen die kleinen Dinge. Weil sie täglich erfahren, wie brüchig das Leben ist.