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Fall Yverdon «Der Begriff Familiendrama verharmlost die Gewalt massiv»

In Yverdon hat die Polizei letzte Woche eine tote fünfköpfige Familie in einem abgebrannten Haus gefunden. Alle wiesen Schusswunden auf, in der Nähe des Vaters wurde eine Waffe gefunden. Verschiedene Medien, darunter auch SRF, sprachen von einem «Familiendrama». Expertin Agota Lavoyer hat ihren Unmut darüber auf Twitter kundgetan. Nun nimmt sie Stellung dazu.

Agota Lavoyer

Agota Lavoyer

Expertin für sexualisierte Gewalt

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Agota Lavoyer ist selbstständige Beraterin und Expertin für sexualisierte Gewalt. Als Beraterin, Referentin, Autorin und Kolumnistin engagiert sie sich für eine bessere Unterstützung von Opfern sexualisierter Gewalt und die Prävention von sexualisierter Gewalt.

SRF News: Warum ist der Begriff «Familiendrama» problematisch?

Agota Lavoyer: Einerseits ist er verharmlosend. Hier hat ein Mensch andere getötet. Auf der anderen Seite sendet er das fatale Signal, dass das Vorgefallene eine Privatangelegenheit ist. Dabei haben solche Fälle immer eine gesellschaftliche Komponente. Genauso schlimm fand ich den Begriff «Tragödie». Die Terminologie unterstellt Heldenhaftes und verschleiert komplett, worum es geht. Wenn eine Familie beim Wandern vom Berg stürzt – das ist ein Drama.

Im Fall Yverdon hat die Polizei selbst so kommuniziert. Wurde überhastet formuliert?

Auch wenn man noch nicht viel weiss, muss die Option, dass es sich um häusliche Gewalt handelt, berücksichtigt werden. Sonst verschliesst man die Augen davor, wie verbreitet geschlechtsspezifische Gewalt ist. Das «Familiendrama» ist kein neutraler Begriff. Wenn man nicht weiss, was vorgefallen ist, dann soll man das auch so schreiben.

Der Fall Yverdon

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Legende: KEYSTONE/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Am Morgen des 9. März kam es in Yverdon VD zu einem Grosseinsatz der Feuerwehr, die wegen eines brennenden Einfamilienhauses ausgerückt war. Augenzeugen berichteten von einer Explosion. Vor Ort fanden die Einsatzkräfte mehrere leblose Körper.

Im Anschluss stellte sich heraus, dass es sich dabei um einen 45-jährigen Mann, seine 40-jährige Ehefrau und die drei gemeinsamen Töchter im Alter von fünf, neun und 13 Jahren handelte.

In einer Stellungnahme erklärte die Waadtländer Kantonspolizei zwei Tage später, dass sie von einem Gewaltverbrechen ausgehe und die Theorie «eines Familiendramas» im Vordergrund stehe. Die aufgefundenen Leichen hätten Schusswunden aufgewiesen, beim Vater sei zudem eine Waffe gefunden worden.

Gibt es weitere, verbreitete Verharmlosungen?

Am Dienstag kam es in Windisch AG zu einem Gewaltdelikt. Auch dort war in der Berichterstattung wieder vom «Beziehungsdelikt» die Rede. Häufig wird auch von «Sex» gesprochen («Sex-Täter», «Sex-Attacke»). Um es klipp und klar zu sagen: Ein Mensch, der jemand vergewaltigt: Das hat nichts mit Sex zu tun.

2006 wurde der ‹erweiterte Suizid› zum Unwort des Jahres gewählt. Leider liest man Begriffe wie diesen weiterhin in jeder Zeitung.

Auch Begriffe wie «Eifersuchtstat» sind problematisch, weil sie einen möglichen emotionalen Auslöser des Täters thematisieren, nicht aber die viel komplexeren Ursachen der ausgeübten Gewalt. 2006 wurde der «erweiterte Suizid» zum Unwort des Jahres gewählt. Leider liest man all diese Begriffe weiterhin in jeder Zeitung.

Sie schreiben in Ihrer Kolumne auf elleXX, dass die mediale Berichterstattung auch beeinflusst, wie Betroffene von Gewalt das Thema wahrnehmen. Können Sie das ausführen?

Aus jahrelanger Beratungstätigkeit weiss ich, dass die verharmlosende Berichterstattung viel Leid verursachen kann. Betroffene fühlen sich mitschuldig. Wenn man von einem «Beziehungsdelikt» liest, denkt man, dass die Beziehung das Problem war. Das ist ein Hohn und ein weiterer Schlag ins Gesicht für jede Betroffene.

Ich war empört, als ich die Meldung zum Fall Yverdon sah, aber nicht überrascht.

Was denken Sie, woher kommt das, dass wir Delikte in der Sprache verharmlosen?

Die Sprache ist ein Abbild von gesellschaftlichen Haltungen. Wir sind von patriarchalen und misogynen Bildern geprägt. Die mediale Berichterstattung und die behördliche Terminologie widerspiegelt das. Ich muss sagen: Ich war empört als ich die Meldung zum Fall Yverdon sah, aber nicht überrascht.

Hat sich im Umgang damit denn nicht auch etwas verändert in den vergangenen Jahren?

Ich staune darüber, wenn man das Gefühl hat, dass eine breitflächige Sensibilisierung stattgefunden hat. Ich gebe selbst Workshops bei Behörden, an Schulen oder anderen Institutionen, und ich kann Ihnen sagen: Die meisten hatten noch nie eine Schulung zu geschlechterspezifischer Gewalt. Den Journalistinnen und Journalisten sage ich: Mit einigen wenigen Zusatzinformationen ist schon viel erreicht. Jede zweite Woche tötet ein (Ex-) Partner eine Frau in diesem Land, jede achte Frau wurde vergewaltigt. Das gilt es immer wieder zu wiederholen.

Das Gespräch führte Patrick McEvily.

Audio
Aus dem Archiv: Über Tötungsdelikte in Partnerschaften
aus SRF 4 News vom 13.03.2023. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 27 Sekunden.

SRF 4 News, 09.03.2023, 12 Uhr;

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