Noch nie gab es weltweit so viele Binnenvertriebene: Über 80 Millionen Menschen waren es Ende 2024, so die Beobachtungsstelle für Binnenvertriebene in Genf. Die Gründe für ihre Flucht sind vielfältig, sagt Migrationsforscherin Judith Kohlenberger.
SRF News: Ein zentraler Faktor für Binnenflucht sind Gewaltkonflikte. Viele Menschen müssen flüchten, aber sie verlassen ihr Land nicht, sondern bleiben innerhalb der Landesgrenzen. Woran liegt das?
Judith Kohlenberger: Zum einen möchten viele Menschen gerade zu Beginn eines Konflikts möglichst nahe bei ihrem Heimatdorf oder ihrer Heimatstadt bleiben, um schnell zurückkehren zu können, sobald Frieden einkehrt.
Es kommt oft vor, dass Binnenvertriebene nach einiger Zeit doch noch den Schritt wagen und ins Ausland fliehen.
Die Hoffnung darauf ist anfangs meist gross. Zum anderen fehlen vielen Menschen die Ressourcen, die Möglichkeiten oder die Netzwerke, um international zu fliehen oder gar bis nach Europa zu gelangen. Das heisst, manchmal bleibt ihnen keine andere Wahl, als innerhalb ihres Landes zu bleiben.
Es liegt also zum Teil an fehlenden Möglichkeiten. Kann es auch Vorteile haben, im eigenen Land zu bleiben?
Absolut. Wer nur in eine andere Region desselben Landes flieht, muss sich nicht erst mühsam in eine neue Gesellschaft integrieren. Man spricht die gleiche Sprache, kennt die kulturellen und sozialen Gepflogenheiten und hat oft Verwandte, Bekannte oder Freunde in anderen Landesteilen, die einem helfen.
Zudem kann man leichter nach Hause zurückkehren, um nach dem Rechten zu sehen und im Idealfall schnell wieder an den Ursprungsort zurückkehren, wenn sich die Lage entspannt.
Aber wenn man im eigenen Land bleibt, ist man möglicherweise immer noch näher am Konflikt und an der Gewalt. Ist das nicht ein Risiko?
Ja, absolut. Wir haben in vergangenen Konflikten gesehen, dass sich Kriege geografisch verlagern können. Eine Region mag zunächst betroffen sein, doch sukzessive ziehen andere Teile des Landes nach.
Wer über die nötigen finanziellen Mittel und ein höheres Bildungsniveau verfügt, dem fällt die internationale Flucht leichter.
Das ist ein grosser Nachteil. Deshalb kommt es oft vor, dass Binnenvertriebene nach einiger Zeit doch noch den Schritt wagen und ins Ausland fliehen.
Wie unterscheiden sich Menschen, die innerhalb ihres Landes flüchten, von denen, die ins Ausland gehen?
Es gibt einige soziodemografische Unterschiede. Ältere Menschen bleiben viel häufiger in ihrem Heimatland. Personen über 50 oder 60 Jahre entscheiden sich oft sogar dafür, im Kriegsgebiet zu bleiben – weil sie ihr gesamtes Leben dort verbracht haben und nicht gehen möchten. Jüngere Menschen hingegen sind eher bereit, ins Ausland zu gehen und ein neues Leben zu beginnen.
Auch der sozioökonomische Hintergrund spielt eine grosse Rolle. Wer über die nötigen finanziellen Mittel und ein höheres Bildungsniveau verfügt, dem fällt die internationale Flucht leichter – insbesondere dann, wenn bereits soziale Netzwerke im Ausland bestehen, etwa durch touristische Reisen oder Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern.
Was bedeutet die steigende Zahl von Binnenvertriebenen für die betroffenen Regionen?
Wenn wir es mit der Aufnahme von Geflüchteten im Ausland vergleichen, gibt es einige Unterschiede. Bestimmte Integrationshürden fallen weg: Die Sprache ist dieselbe, die kulturellen Gepflogenheiten sind vertraut, und viele Ankommende haben Verwandte oder Bekannte vor Ort. Das erleichtert die Aufnahme. Trotzdem kann die plötzliche Zunahme von Menschen in einer Region eine Herausforderung sein – sei es für die Infrastruktur oder die Versorgung. Und natürlich bleibt die Gefahr bestehen, dass der Konflikt auch dort hinüberschwappt.
Das Gespräch führte Nico Malzacher.