Dieses Bild bewegte die Schweiz: Die Grüne Irène Kälin sass in der Herbstsession 2018 mit Kind im Nationalrat und setzte sich für eine Stellvertreterlösung in den Parlamenten von Bund, Kantonen und Gemeinden ein. Sie blieb ohne Erfolg – so wie beispielsweise auch FDP-Politikerin Doris Fiala. Die Forderung nach einem Ersatz für Parlamentarierinnen, die kürzlich Mutter geworden sind, oder Parlamentarier, die aufgrund eines Unfalls nicht an den Ratssitzungen teilnehmen können, hat auf nationaler Ebene einen schweren Stand.
Nur: Eine Unbekannte ist die Stellvertreterlösung in der Schweiz nicht. In den Kantonen Wallis und Graubünden existiert sie bereits seit über 100 Jahren und auch in den Kantonen Genf, Jura und Neuenburg können sich Politikerinnen oder Politiker für eine bestimmte Zeit ersetzen lassen. Im Aargau wird die Regelung aktuell ausgearbeitet und auch in den Kantonen Zug, Baselland oder Luzern sind Anträge hängig. Nun hat mit dem Kanton Zürich auch der bevölkerungsstärkste Schweizer Kanton eine solche Stellvertreterlösung auf den Weg gebracht.
Schwangerschaft: Gefahr für die politische Karriere
Das Kantonsparlament hat am Montag einen Vorstoss von SP, Grünen, AL und GLP vorläufig unterstützt, der Regierung und Kantonsratskommission zum Handeln auffordert. Demnach soll es Politikerinnen oder Politikern in den Parlamenten künftig möglich sein, sich während einer gewissen Zeit vertreten zu lassen. Dies etwa nach der Geburt eines Kindes oder nach Unfällen – aber auch, wenn ein Erscheinen im Rat aus beruflichen oder schulischen Gründen nicht möglich ist. Ersatzmann oder -frau wäre jeweils der erste Nicht-Gewählte auf der Parteiliste.
Ersatzfrauen und -männer seien heute ein wichtiges Instrument, um politisches Engagement und Familie unter einen Hut zu bringen, sagte Sonja Gehrig von den Grünliberalen im Rat. Besteht diese Möglichkeit nicht, kann dies eine politische Karriere gefährden und die Kontinuität des Parlamentsbetriebs stören.
Dies untermauern Zahlen aus dem Zürcher Stadtparlament. Seit Beginn der Legislatur im Jahr 2018 ist dort rund jedes vierte Ratsmitglied wieder aus dem Gemeinderat zurückgetreten. Ein weiterer Vorteil des Stellvertretersystems sei daher auch, dass es in den Parteien für politischen Nachwuchs sorge, ergänzte Sibylle Marti von der SP.
Stimmenübertragung blieb chancenlos
Gespalten zeigten sich die Grünen – obwohl sie zu den Unterzeichnern des Vorstosses gehörten. Auch wenn die Stellvertreterregelung sicher positiv sei bezüglich Familien-Vereinbarkeit und Nachwuchsförderung, stelle sie auch eine Gefahr für die politische Karriere der Frau dar. Weil vor allem Frauen einen Ersatz in Anspruch nehmen müssten, etwa aufgrund einer Mutterschaft, werde es für Parteien unattraktiver, sie auf den Wahllisten in vordere Positionen zu hieven. Die bürgerlichen Parteien und die Mitte kritisierten zudem, dass eine solche Regelung zu Unklarheiten führe und nicht nötig sei. Einen Ersatz brauche es höchstens in Einzelfällen.
Am Schluss sitzt lediglich noch eine Person pro Fraktion da und stimmt für alle ab.
Trotz Kritik: Der Rat unterstützte das Begehren vorläufig, verwarf gleichzeitig aber einen ähnlichen Vorschlag der FDP. Die Partei wollte, dass ein Ratsmitglied seine Stimme auf ein anderes Ratsmitglied übertragen kann. Einzelne Politiker erhielten so zu viel Gewicht. Am Schluss sitze lediglich noch eine Person pro Fraktion da und stimme für alle ab, sagte Florian Heer von den Grünen. «Die physische Anwesenheit der Ratsmitglieder ist kein Selbstzweck, sondern dient der Legitimation von Entscheiden.»