Ein Mann hört Stimmen, ein verzweifelter Insasse verletzt sich selbst, die Polizei bringt einen vierzehnjährigen Buben in die Zelle: Das gehört für Aufseher Spiess und Pflegefachfrau Leutwiler zum Berufsalltag.
Sie arbeiten im Gefängnis Zürich West, einem der modernsten Gefängnisse der Schweiz. 241 Haftplätze für vorläufige Festnahme und Untersuchungshaft. Sieben Stockwerke, 12'000 Ein- und Austritte pro Jahr, ein 24-Stunden-Betrieb.
Männer, Frauen, Jugendliche, selten sogar Kinder: Jede Person, die von der Kantonspolizei Zürich verhaftet wird, kommt hier durch.
Wir begleiten Aufseher Spiess und Pflegefachfrau Leutwiler auf einer Spätschicht.
Der Mann wird als Sofortmassnahme in die Nachbarzelle in ein Einzelsetting verlegt.
Pflegefachfrau Leutwiler wechselt den Stock. Ein Mann ist zurück von der Einvernahme bei der Staatsanwaltschaft. Verdacht: Betäubungsmittelhandel, offenbar wurde Untersuchungshaft beantragt. Der Mann meldete, es gehe ihm nicht gut. Die Türe wird geöffnet. «Ich muss hier raus», sagt er. Der Mann ist angespannt, bekommt Panik, scheint verzweifelt. Der Puls wird gemessen, er bekommt eine Beruhigungstablette. Später fragt die Pflegefachfrau: «Haben Sie vor, sich etwas anzutun?» «Nein, natürlich nicht», sagt der Mann.
Bei vielen inhaftierten Personen hat bereits bei der Verhaftung ein Arzt oder eine Ärztin die «Hafterstehungsfähigkeit» überprüft: Geschaut, ob die Person überhaupt ins Gefängnis gebracht werden kann oder allenfalls in eine Klinik muss. Trotzdem gibt es für Leutwiler viel zu tun.
Am Nachmittag besucht Leutwiler einen 17-Jährigen Mann, es geht um mögliche illegale Einreise. Sie sprechen Französisch. Er sagt, er konsumiere Haschisch und nehme Pregabalin, ein Medikament gegen Angststörungen oder Epilepsie. «Das Medikament wird häufig missbraucht, häufig von Männern aus Maghreb-Staaten», sagt Leutwiler. Wegen des hohen Suchtpotenzials und den Entzugserscheinungen muss der Inhaftierte medikamentös behandelt werden. «Durch den hohen Suchtdruck werden sie sehr unruhig und angespannt.»
23 Stunden am Tag in der Zelle
In der vorläufigen Festnahme entscheidet sich, ob jemand frei oder in Untersuchungshaft kommt. Sie kann bis zu 96 Stunden dauern. In dieser Zeit ist das Haftregime streng: 23 Stunden sind die Insassen in der Zelle eingeschlossen.
Pflegefachfrau Leutwiler erhält eine Meldung: Der verzweifelte Mann von vorher hat sich selbst verletzt. «Er hat sich mit den Fingernägeln die Haut aufgekratzt.» Der Mann darf nun im Hof allein spazieren. «Selbstverletzungen gibt es häufig, meistens schneiden sich die inhaftierten Personen. Ein Blatt Papier reicht dafür schon.»
«Das ist kein Ort, an dem man ein Kind sehen will», sagt Aufseher Spiess. «Als ich zum ersten Mal einen 12-Jährigen hier gesehen habe, musste ich leer schlucken.» Warum der 14-Jährige hier ist, wissen wir nicht. Es steht vermerkt: «Diverse Delikte».
Oft sei auch der Fall, dass jemand aus einem Jugendheim abgehauen sei und dann eine Nacht hier verbringe. «Es hat alle Reaktionen: Einige sind verzweifelt, andere, die es kennen, machen das schon erschreckend cool mit.»
Beim Eintritt sind immer mindestens zwei Aufseher oder Aufseherinnen dabei. «Teilweise erhalten wir die Meldung, dass die zugeführte Person sehr aufgebracht ist – emotional oder aggressiv», sagt Aufseher Spiess. «Für uns ist das eine wichtige Information, um die Sicherheit zu gewährleisten.»
Neueintritte, plötzliche Austritte, ein Insasse, der in seiner Zelle aggressiv wird, eine Insassin, die einige beruhigende Worte benötigt: So geht das im 24-Stunden-Betrieb des Gefängnisses Zürich West immer weiter.
Für Spiess ist der Arbeitstag allerdings vorbei. Um 21:30 Uhr macht er, was den Insassen verwehrt bleibt: Er geht nach Hause.
Pflegefachfrau Leutwiler besucht kurz vor Feierabend nochmals den Mann, der sich selbst verletzte. Sie klopft an die Zelle, schaut durch das Fenster. Nichts zu sehen. Sie öffnet das Fenster und ruft nach dem inhaftierten Mann. Endlich Antwort. «Geht es besser? Ich sehe, das Medikament hat Ihnen geholfen.» Dann schliesst sie das Fenster wieder.