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Gefahr der Paralleljustiz? Warum zum Rabbi und nicht an ein Gericht?

In der Schweiz gibt es drei jüdische Rabbinatsgerichte. Sie entscheiden über religiöse Fragen wie Koscher-Zertifikate und Konversionen, aber auch über «profane» Geldstreitigkeiten wie beispielsweise Immobilieninvestitionen.

Vor einigen Monaten musste das Bundesgericht über ein Urteil eines Rabbinatsgerichts in einem Streit um Immobilieninvestitionen entscheiden – wohl zum ersten Mal überhaupt. Eigentlich verpflichten sich die Parteien nämlich, das Verdikt eines Rabbinatsgerichts zu akzeptieren, deshalb erfährt die breite Öffentlichkeit kaum je von dieser Rechtsprechung.

Dabei stützen sich Rabbinatsgerichte auf eine breite und alte Rechtstradition: «Ich kann mich als Richter auf Hunderte von Gesetzen mit Kommentaren und Entscheidsammlungen stützen», sagt Rabbiner Moshe Baumel von der Israelitischen Gemeinde Basel, der auch als Richter an einem Rabbinatsgericht sowie als Lehrbeauftragter am Zentrum für jüdische Studien an der Universität Basel tätig ist.

Angst vor Paralleljustiz sei unbegründet

Vor einigen Jahren gab es eine Kontroverse über die Idee von Imam-Schiedsgerichten – man fürchtete eine Paralleljustiz. Diese Gefahr besteht laut Baumel bei den Rabbinatsgerichten nicht: Im Unterschied zum islamischen Recht habe sich das jüdische Recht wegen der Vertreibung der Jüdinnen und Juden in den letzten 2000 Jahren in Ländern entwickelt, in denen nichtjüdisches staatliches Recht galt. Das jüdische Recht sei deshalb darauf ausgerichtet, sich harmonisch in staatliches Recht einzufügen und dieses bloss zu ergänzen.

Mann mit langem weissen Bart
Legende: Ein Rabbi beim Beten. REUTERS/Mark Kauzlarich

Das sieht Alfred Strauss ähnlich, der eine juristische Dissertation zum rabbinischen Schiedsgericht im Lichte des schweizerischen Rechts geschrieben hat. «Das jüdische Recht hat sich zudem weiterentwickelt», so Strauss. Rabbinatsgerichte müssten auch neue Rechtsgebiete einschliessen, wie beispielsweise das Gesellschafts- oder Versicherungsrecht, die in den klassischen jüdischen Gesetzbüchern nicht geregelt sind.

Warum zum Rabbi und nicht an ein Gericht?

Da fragt sich: Warum wendet man sich überhaupt an ein Rabbinats- statt an ein weltliches Gericht? Manche tun das aus religiöser Überzeugung, sie wollen ihre Rechtsfrage oder ihren Streit von einem Rabbiner geklärt haben. «Es gibt aber auch Leute, die meinen, sie könnten den Fall eher gewinnen, weil sie den Rabbiner kennen», sagt Baumel. Das sei jedoch ein Irrglaube, denn rabbinische Gerichte seien unabhängig und liessen sich nicht bestechen.

Zu dieser Einschätzung gelangte übrigens auch das Bundesgericht im eingangs erwähnten Urteil: Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Rabbinischen Schiedsgerichts sei nicht infrage gestellt.

Gebäude
Legende: Das Bundesgericht in Lausanne. Es musste kürzlich über ein Urteil eines Rabbinatsgerichts in einem Streit um Immobilieninvestitionen entscheiden. REUTERS/Denis Balibouse

Trotzdem wurde die Beschwerde abgewiesen: Das Bundesgericht hatte schlicht keinen Sachverhalt und keine Rechtsfragen, worüber es hätte entscheiden können – Urteile von Rabbinatsgerichten werden nämlich nur mündlich begründet. Dies hätten die Parteien aber mit der freiwilligen Vereinbarung der Anwendung jüdischen Verfahrensrechts in Kauf genommen, so das Bundesgericht.

«Das Bundesgericht hat dem Rabbinat mit diesem Entscheid viel Autorität und Legitimität verliehen», findet Baumel. Das sei eine Präzedenz für die Zukunft.

Echo der Zeit, 28.11.2023, 18 Uhr

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