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Gegen Dschihadismus Zu wenige Deradikalisierungsangebote – was sind die Folgen?

Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Schweiz schlecht aufgestellt, was Deradikalisierungsprogramme anbelangt. Das ist ein Risiko für die psychische Gesundheit ehemaliger IS-Sympathisanten – und ein Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft.

Als eine Anwältin für einen ehemaligen IS-Sympathisanten ein Deradikalisierungsprogramm suchte, musste sie feststellen: Davon gibt es in der Schweiz nicht viele. Vor allem ausserhalb der Gefängnisse ist das Angebot marginal.

«Leider sind wir bei Deradikalisierungsangeboten in der Schweiz etwas schwach auf der Brust», sagt Mirjam Eser Davolio vom Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der ZHAW. Die Kantone seien etwas zögerlich.

Deradikalisierungsangebote in der Schweiz

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An der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich gibt es ein Programm für Jugendliche zur Verringerung der Radikalisierungswahrscheinlichkeit (RADIP). In den Kantonen Bern und Genf gibt es Mentoring-Programme, manche Kantone und Städte kennen Projekte, und das Personal in den Gefängnissen ist inzwischen gezielt geschult. Im Vergleich zu anderen Ländern wie etwa Deutschland und Frankreich ist das Angebot in der Schweiz jedoch recht fragmentiert.

Auch der Sicherheitsverbund Schweiz sowie das Schweizerische Kompetenzzentrum für Justizvollzug orten Handlungsbedarf.

Aufgabe an Therapeuten delegieren?

Die Anwältin löste das Problem, indem sie für ihren Mandanten eine Psychotherapie und die mobile Sozialarbeit engagierte.

Je nach Fall könne das durchaus ausreichen, sagt der Kriminologe und Terrorismusforscher Ahmed Ajil von der Universität Luzern: «Spezifische Distanzierungsangebote für Personen mit Affinitäten zum IS fehlen zwar, aber die bestehenden Angebote von Psychotherapeuten, Sozialarbeitenden und Seelsorge können relativ viel abdecken.» Weil die Schweiz gar nicht so viele Betroffene habe, frage sich auch, ob sich die Schaffung eines spezifischen Angebots überhaupt lohne.

Schwarz gekleidete Männer mit Waffen auf Pickups
Legende: Wie kann man sich vom Gedankengut des Islamischen Staates wieder lösen? Im Bild posieren IS-Kämpfer 2014 in Rakka, Syrien. Militant photo via AP, File

Anders sieht das der Theologe und muslimische Seelsorger Kerem Adıgüzel: «Es kann durchaus sein, dass Seelsorgende vereinzelt Unterstützung bieten können, aber generell sind sie nicht die richtige Anlaufstelle für Deradikalisierung. Viele sind dafür nicht spezialisiert.»

Alle angefragten Expertinnen und Experten halten einen interdisziplinären Ansatz für am erfolgversprechendsten, dass also Dschihadismus-Experten, Therapeutinnen, Sozialarbeit und Seelsorge zusammenarbeiten.

Wenn ehemalige IS-Kämpfer zurückkehren

Mit dem Umsturz in Syrien und dem Hilfsstopp der USA ist unklar, wie lange die kurdischen Streitkräfte die Gefängnisse und Camps mit IS-Anhängern in Syrien noch kontrollieren können. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Schweizer IS-Kämpfer zurückkehren. Wäre die Schweiz darauf vorbereitet?

«Jein», sagt Eser Davolio. «Radikalisierte Häftlinge werden zwar auf verschiedene Haftanstalten verteilt und beobachtet.» Es gebe bisher aber keine Disengagement- oder Deradikalisierungsprogramme in den Gefängnissen.

Deradikalisierung und Disengagement

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Der Begriff Deradikalisierung wird im deutschsprachigen Raum benutzt, aber verschiedentlich kritisiert, weil er auch die Änderung von inneren Einstellungen umfasst. Im Französischen und Englischen spricht man von «Disengagement». Gemeint ist die Abkehr von straffälligem Verhalten. In der Sozialarbeit spricht man auch von «Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit», wenn es darum geht, sich von extremem Gedankengut zu verabschieden.

Für die ehemaligen Kämpfer bräuchte es laut Eser Davolio spezifische Programme – vor allem nach Absitzen der Haftstrafe. «Diese Personen erleben eine starke Ausgrenzung und Stigmatisierung. Sie sind oft sehr einsam – und Einsamkeit ist wiederum ein Risikofaktor für Radikalisierung.» Umso wichtiger sei es, ihnen zu helfen, sich ein soziales Umfeld zu schaffen und eine Arbeit zu finden.

Ähnlich sieht das Mallory Schneuwly Purdie vom Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Universität Freiburg. Die Schweiz sei zwar besser auf IS-Rückkehrer vorbereitet als noch vor fünf Jahren. Die Begleitung ehemaliger IS-Kämpfer werde aber anspruchsvoll. «Diese Personen haben während Jahren in kurdischen Lagern und Gefängnissen gelebt. Sie sind wütend auf die Schweizer Behörden, weil sie nichts für sie getan haben.» Wenn es zu wenig spezifische Disengagement-Angebote gebe, sei das ein Risiko für die psychische Gesundheit dieser Personen – und ein Sicherheitsrisiko für die Gesellschaft.

Rendez-vous, 10.06.2025, 12:30 Uhr

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