Je nach Region, Kanton oder Gemeinde hat die Schweizer Demokratie ein anderes Gesicht. Demokratie- und Föderalismusforscher Sean Müller von der Universität Lausanne spricht im Interview über die Unterschiede und Herausforderungen der Demokratie in der Schweiz.
SRF News: Wie unterschiedlich wird die Demokratie in der Schweiz gelebt?
Sean Müller: Eigentlich haben wir in der Schweiz nicht nur eine, wir haben 26 kantonale und 2000 kommunale Demokratien. Wir haben also fast 3000 Demokratien, die für sich selbst Entscheide treffen können.
Wo sind die grössten Differenzen innerhalb der Schweiz?
Wir haben mehr oder weniger zwei «Schweizen», was die Umsetzung von Demokratie betrifft. Wir haben die Westschweiz und das Tessin, da dominiert eher die repräsentative Demokratie. Das heisst: Man wählt und delegiert Entscheidungen an Parlamente. Ein paar Jahre später entscheidet man dann, ob die Gewählten gute oder schlechte Arbeit gemacht haben. Auf der anderen Seite haben wir die Deutschschweiz, vor allem die ländliche Deutschschweiz mit den Landsgemeinden. Da müssen – oder dürfen – die Bürgerinnen und Bürger noch selbst teilnehmen an den konkreten Entscheidungen.
Natürlich wird auch gewählt, aber die Parlamente sind oftmals eher Vorbereiter von Entscheidungen, die dann abschliessend von den Bürgerinnen und Bürgern an der Urne oder an der Versammlung getroffen werden.
Ist das die Erklärung dafür, dass zum Beispiel im Kanton Neuenburg selbst das kleinste Dorf Les Planchettes, in dem 203 Personen wohnen, zwingend ein eigenes Parlament haben muss?
Genau. Wenn man diesen Gedanken der repräsentativen Demokratie zu Ende führt, wird von oben herab vorgeschrieben, also vom Kanton an alle Gemeinden, dass sie ein Parlament haben müssen, also genau dieses repräsentative Prinzip umsetzen müssen. Auch wenn es für eine klitzekleine Gemeinde eigentlich keinen Sinn macht.
Wo sehen Sie Reformbedarf bei der Demokratie?
Vor allem bei der Teilnahme. Weniger als die Hälfte der Menschen, die eigentlich wählen und abstimmen könnten, nimmt nicht teil. Da könnten wir uns vielleicht auch vom Ausland inspirieren lassen.
Inwiefern?
Zum Beispiel könnte man Bürgerinnen- und Bürgerräte mit der direkten Demokratie kombinieren. Man lost Bürgerinnen und Bürger aus, die sich dann eine komplexe Vorlage anschauen. Sie erarbeiten dann z.B. drei Argumente dafür und drei dagegen, in einer einfachen Sprache, die alle verstehen. Experimente in Sion, Uster oder Wetzikon haben gezeigt, dass man sich eher für eine Vorlage interessiert, wenn sie einem verständlich und glaubhaft erklärt wird von Bürgerinnen und Bürgern. Denn – anders als Politikerinnen und Politiker – haben die kein Interesse daran, wiedergewählt zu werden.
Das Gespräch führte Georg Halter.