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Wie ein Diktatorensohn die Geschichte reinwäscht
Aus News Plus vom 09.05.2022. Bild: SRF
abspielen. Laufzeit 16 Minuten 8 Sekunden.

Geschichtsrevisionismus Wie ein Diktatorensohn die Geschichte verdreht und neu verkauft

Ereignisse werden im Nachhinein von verschiedenen Akteuren anders wahrgenommen und mit der Zeit anders gedeutet – in gewissen Fällen steckt Absicht dahinter. In den Philippinen hat nämlich ein Mann die dunkle Vergangenheit seines Landes schöngeredet – mit Erfolg.

Die Würfel sind gefallen: Ferdinand «Bongbong» Marcos – Sohn von Ex-Diktator Ferdinand Marcos – gewinnt die Präsidentschaftswahl in den Philippinen. Er verdrehte die Geschichte und verkaufte seinen Wählern die Jahre der Diktatur seines Vaters als Zeit des Wohlstands. Mit Erfolg…

1972 bis 1986: Die brutale Ära Marcos

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Legende: Imelda Marcos neben Ehemann, Ferdinand Marcos Senior. Er war der zehnte Präsident der Philippinen und regierte das Land ab 1972 diktatorisch. Keystone

Es hat damals nicht direkt mit einer Diktatur angefangen. Ferdinand Marcos, der Vater des frisch gewählten Präsidenten «Bongbong» Marcos, wurde in den Sechzigerjahren demokratisch gewählt und später auch wiedergewählt. Doch während seiner Amtszeit entwickelte er sich zum autokratischen Herrscher und regierte auch mithilfe des Kriegsrechts. Armee und Polizei gingen brutal gegen politische Gegnerinnen und Gegner vor. Menschen wurden ins Gefängnis gesteckt, viele von ihnen getötet.

Die Ära Marcos steht nicht nur für Brutalität, sondern auch für Korruption und Selbstbereicherung. Sinnbildlich dafür ist die immense Sammlung seiner Frau Imelda mit Tausenden Schuhen – die Bilder davon gingen nach dem Sturz des Diktators 1986 um die Welt. Die Familie Marcos parkierte Millionen von Dollar auf ausländischen Bankkonten – darunter auch in der Schweiz. Diese blockierte Gelder in der Höhe von 685 Millionen Dollar.

«Das hat damit zu tun, dass das Durchschnittsalter bei etwa 26 Jahren liegt und darum die Mehrheit der Filipinos nach der Marcos-Diktatur geboren sind», erklärt SRF Südostasien-Korrespondent Lukas Messmer.

Die Jahre der Diktatur seien in dem Land nie wirklich aufgearbeitet worden, auch nicht in den Schulen, sagt Messmer. Günstige Bedingungen also, um die Vergangenheit so zu verdrehen, dass es den eigenen Zielen nützt. Dafür habe der Marcos-Clan auch die sozialen Medien genutzt.

Ferdinand Marcos
Legende: Dieses Bild stammt aus einem Video, das auf der Facebook-Seite von «Bongbong» Marcos gespostet wurde: Der Clan nutzt die sozialen Medien, um seine Geschichte neu zu verkaufen. Ein leichtes Spiel, denn Filipinos verbringen über 10 Stunden am Tag im Netz. Keystone

Vor ungefähr fünf Jahren hat das Marcos-Lager begonnen, auf diesen sozialen Plattformen Videos zu publizieren: Darin behaupteten die Mitglieder, dass die Jahre der Diktatur eigentlich Jahre des Wohlstands gewesen seien, gar eine «goldene Zeit» waren, erklärt Messmer.

Marcos Junior hat es geschafft, mit einer riesigen Kampagne von Desinformation, die Geschichte seiner Familie im Internet neu zu schreiben.
Autor: Lukas Messmer Korrespondent SRF, Südostasien

Solche Videos werden von den Plattformen selten geprüft – aber millionenfach geschaut. So habe es Marcos Junior tatsächlich geschafft, mit einer riesigen Kampagne von Desinformation, die Geschichte seiner Familie im Internet neu zu schreiben, erklärt Messmer.

Lügen einstecken – dafür Hoffnungen wecken

Doch was steckt hinter diesem «Neuauftischen» von Geschichte? Béatrice Ziegler hat während mehrerer Jahre am Zentrum für Demokratie in Aarau die politische Bildung und Geschichtsdidaktik geleitet: «Es erstaunt mich immer wieder, wie kurz das Gedächtnis von Leuten ist.»

Gleichzeitig aber «erfahren» alle anders. Das heisst, es gibt verschiedene Perspektiven auf historische Ereignisse, weil die Realitäten der Menschen, die dabei waren, häufig unterschiedlich waren. Im Verlaufe der Zeit werden so Ereignisse anders gedeutet und wahrgenommen. Der dazugehörige Fachbegriff lautet: Geschichtsrevisionismus.

Was bedeutet Geschichtsrevisionismus?

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Laut Béatrice Ziegler bezeichnet Geschichtsrevisionismus einen notwendigen und wichtigen Vorgang in der Geschichtswissenschaft. «Die Geschichten, die erzählt werden, werden ständig weiterentwickelt und verändert.» Teils würden nur Nuancen verändert, teils Grundlegendes, so die Historikerin. «Grund kann auch ein neuer Quellenbestand sein, mit dem man zu neuen Erkenntnissen gelangt.»

Eine neue Perspektive einbeziehen: Auch dies kann zu Geschichtsrevisionen führen. Ein Beispiel dafür ist der Postkolonialismus. «Früher hat man die Geschichte der Herrscher geschrieben – man hat mit den Augen der Imperien auf die Länder des Südens geblickt. Heute betrachtet man diese verstärkt auch aus Perspektive der ehemaligen Kolonien selbst.» Dies führe zu völlig neuen Sichtweisen, auch weil sich Normen massiv verändern – was auch positiv sei, so Ziegler.

Ein gelbes Peace-Zeichen auf der Berliner Mauer.
Legende: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine starke Bewegung, die die Menschenrechte als Norm für politisches Handeln zu etablieren versuchte. So habe manches historische Ereignis auch eine andere Perspektive der Beurteilung erfahren, erklärt Ziegler. (Bild: ein Peace-Zeichen auf der Berliner Mauer.) Keystone

Problematisch sei es, wenn die Geschichte, die jemand erzählt, überhaupt nicht belegbar und aus der Luft gegriffen ist, erklärt Ziegler. Willentlich nur das erzählen, was einem passt, sei darauf zurückzuführen, dass Akteure politische Ziele oder wirtschaftliche Interessen verfolgen, so die Historikerin.

Wenn die Geschichte unausgewogen erzählt wird und gewisse Aspekte der Vergangenheit übertönt oder gar auslässt, wird es problematisch.
Autor: Béatrice Ziegler Historikerin

Wie die Gesellschaft solchen Geschichten Glauben schenkt, ist die andere Frage. Eine grosse Rolle spielt hierbei die Geschichtsvergessenheit. Junge Generationen, finden oft keine Zeit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen – was zu einem Nichtwissen führt. Verdrehte Geschichten können aber auch Hoffnungen wecken.

Umdeutung der Schweizer Neutralität

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Auch in der Schweizer Geschichte gibt es Beispiele von Geschichtsrevision. So auch der Neutralitätsbegriff.
Die Schweizer Neutralität wurde eigentlich im Wiener Kongress Anfang des 19. Jahrhunderts festgeschrieben. In Anbetracht der neuen Ordnung nach den Napoleonischen Kriegen hat man die Schweiz zur Neutralität verpflichtet – aufgrund gewisser Interessen der europäischen Mächte. Dies widerspreche der heutigen weitverbreiteten Idee, nämlich dass die Neutralität selbstgewählt sei, so Ziegler. Dies eröffne eine ganz neue Deutungsmöglichkeit.

Hoffnungen wecken – dies tat auch Marcos Junior. Doch woher weiss man nun, was wahr ist? Klar ist, eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Aber es gibt methodische Verpflichtungen der Geschichtswissenschaft. Ziegler betont: Eine historische Erzählung solle alle möglichen und bewährten Informationen einbeziehen und offenlegen – und nicht etwa die Geschichte zurechtschustern, um die eigene Macht zu sichern.

NewsPlus, 09.05.2022, 16 Uhr ; 

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