In der Primarschulklasse in Ettiswil (LU) wird heute das Einmaleins geübt. Kaum hat die Lehrerin die Aufgabe erklärt, stecken vier Mädchen die Köpfe zusammen. Dass im Schulzimmer keine Buben sitzen, ist kein Zufall: An der Sonderschule «Forta» werden seit diesem Schuljahr nur Mädchen unterrichtet.
Sie alle haben eine Abklärung durch den schulpsychologischen Dienst hinter sich. Die Diagnosen lauten beispielsweise Autismus-Spektrum-Störung, Hyperaktivität oder Depression.
«Ich bin nicht für Geschlechtertrennung per se. Aber diesen Mädchen tut das gut», sagt Schulleiterin Françoise Weber. Bevor sie nach Ettiswil kamen, hätten viele Schülerinnen bereits mehrere Stationen durchlaufen. Etwa in der Jugendpsychiatrie oder in zahlreichen Regelschulen.
Mädchenschule bietet sichere Umgebung
Die Geschlechtertrennung ermögliche ein Ankommen in einer sicheren Umgebung: «Im Matheunterricht nehmen sich Mädchen meist etwas zurück. Hier können sie sich mehr zeigen. Das ist etwas plakativ, aber es geht in diese Richtung.» Die Schule in Ettiswil ist Teil einer privaten Stiftung und hat eine Leistungsvereinbarung mit dem Kanton Luzern. Sie bietet 23 Plätze an, aktuell sind 14 besetzt.
Ich bin nicht für Geschlechtertrennung per se. Aber diesen Mädchen tut das gut.
Eine der Schülerinnen ist Eva: «Ich finde es in der Mädchenschule besser als vorher. Es ist weniger wild», erklärt die 11-Jährige. Auch die 13-jährige Elenja schätzt die Ruhe, sie arbeite hier an ihrer Schüchternheit: «Nur schon fremden Personen ‹Hallo› zu sagen, ist etwas, das ich nicht so oft mache.»
Mädchen haben ihre Tage. Dieses Thema kann ich hier ruhig ansprechen.
Nur mit Mädchen zur Schule zu gehen, bringe einige Vorteile, sagt die gleichaltrige Ledjona: «Mädchen haben ihre Tage. Dieses Thema kann ich hier ruhig ansprechen, bei Jungs spreche ich das nicht gerne an. Auch über Liebe kann ich hier besser reden.»
Sonderschülerinnen in der Minderheit
Im Kanton Luzern besuchten 2022 knapp 900 Kinder eine Sonderschule. Etwa ein Drittel sind Mädchen. Auch in der übrigen Schweiz sind die Sonderschülerinnen in der Minderheit. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik.
Für diese Unterschiede gebe es einerseits biologische Erklärungen, sagt Romain Lanners, Leiter des Schweizer Zentrums für Heil- und Sonderpädagogik: «Mädchen haben weniger häufig genetische Syndrome.»
Andererseits fördere das Schulsystem nicht alle Kinder angemessen: «Unsere Schulen gehen weniger gut auf die Bedürfnisse von Knaben ein. Gleiches gilt für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund.»
Sinn der Geschlechtertrennung umstritten
Dass Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden, ist in der Schweiz die Ausnahme. In Sonderschulen sei der Effekt dieser Trennung gering, findet Romain Lanners: «Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf ist so heterogen, dass eine Trennung der Angebote für Knaben und Mädchen kaum zielführend ist.»
Jungen und Mädchen haben das Recht auf eine gemeinsame Bildung.
Auch Michael Eckhart, Leiter des Instituts für Heilpädagogik der Pädagogischen Hochschule Bern, ist zurückhaltend. Er sieht einen Bedarf nur in Ausnahmefällen. Etwa bei traumatischen Erlebnissen, Gewalt oder sexueller Ausbeutung. Sonst gelte der Grundsatz: «Jungen und Mädchen haben das Recht auf eine gemeinsame Bildung.»
Françoise Weber, die Schulleiterin in Ettiswil, ist von der Geschlechtertrennung an ihrer Schule überzeugt. Zumindest als Übergangsphase: «In einer Krise sollen Mädchen hier einen Schonraum erhalten. Sobald sie wieder Boden unter den Füssen haben, soll der Weg zurück in die Regelschule führen.»