Sie sei Anwältin der Kinder, sagt Dörte Harms von der Kinderschutzgruppe. Sie sitzt in ihrem Büro im Kantonsspital Baden und erzählt von den Fällen, mit denen sie konfrontiert ist: «Es sind Kinder, die zum Beispiel hier auf den Notfall mit Verletzungen kommen, wo wir sagen müssen, dass die Geschichte, die uns dazu präsentiert wird, nicht glaubwürdig ist.» Oder zumindest müsse man darüber nachdenken, ob sie glaubwürdig sei.
Ungewöhnliche Verletzungen als Indiz
Babys mit Brüchen, die sich noch gar nicht fortbewegen können, werden zum Beispiel genauer untersucht. Bei Kindern mit ungewöhnlichen Verletzungen würde beispielsweise ein Röntgenbild angefertigt. So könne abgeklärt werden, ob es schon ältere, wieder verheilte Brüche gibt. In anderen Fällen werde das Blut untersucht.
Vor allem aber sei das Gespräch mit den Eltern sehr wichtig, sagt Harms weiter. «Wir halten auch ein bisschen ein Augenmerk darauf, ob die Geschichte immer die gleiche ist, oder ob die Erklärung der Verletzung immer wieder wechselt.» Das sei einfach ein Verdachtsmoment.
Ich bin davon überzeugt, dass praktisch alle Misshandlungen, die an Kindern passieren, ihren Ursprung nicht in einem willentlichen Akt haben, sondern wegen einer Überforderung.
Denn in drei Vierteln aller Fälle seien Familienmitglieder die Täter oder die Täterin. Und viele Taten erfolgten nicht aus bösem Willen, sondern aus Überforderung. «Ich bin davon überzeugt und das zeigt sich in unserer Arbeit tagtäglich, dass praktisch alle Misshandlungen, die an Kindern passieren, ihren Ursprung nicht in einem willentlichen Akt haben, sondern wegen einer Überforderung – sei es durch eigene psychische, medizinische, finanzielle oder partnerschaftliche Probleme.»
Am häufigsten diagnostizierten die Kinderspitäler letztes Jahr Fälle von Vernachlässigung, gefolgt von körperlichen und psychischen Misshandlungen. Besonders oft sind sehr junge Kinder betroffen. Bei fast einem Fünftel der Fälle seien die Opfer noch nicht einmal einjährig. Fast die Hälfte der Fälle entfällt auf Kinder unter sechs Jahren, auf die Jahre also, während derer die Eltern besonders intensiv gefordert sind.
Eltern sind oft einsichtig und akzeptieren Hilfe
Über die Gründe, weshalb es im letzten Jahr zu einer Zunahme der Fälle gekommen ist, kann Dörte Harms nur spekulieren. Heute würden Missbrauchsfälle sicher besser erfasst.
Hinzu komme, dass viele Eltern jüngst mit schwierigen Situationen klarkommen mussten. «Wenn man so die letzten Jahre beobachtet, gab es auch viel Unruhe in der ganzen Gesellschaft,» erklärt Harms. Es habe viele Auseinandersetzungen gegeben, wie zum Beispiel Covid, finanzielle Sorgen oder die Verunsicherung durch den nicht mehr ganz so weit entfernten Krieg in der Ukraine. «Das wirkt sich – denke ich – auch immer auf die Behandlung oder Misshandlung von Kindern aus», sagt die leitende Ärztin der Kinder- und Jugendmedizin am Kantonsspital Baden.
Die überwiegende Anzahl derer, mit denen wir sprechen, die sagen ja, dass sie Hilfe brauchen. Und dass sie überfordert und auch dazu bereit sind, das Problem anzugehen.
Wenn sie das Gespräch mit den Eltern suche – egal ob diese Täter oder Täterin seien – so würden die meisten davon die angebotene Hilfe annehmen. «Ich würde sogar sagen, die überwiegende Anzahl derer, mit denen wir sprechen, die sagen ja, dass sie Hilfe brauchen. Und dass sie überfordert sind und auch dazu bereit, das Problem anzugehen», betont Harms.
Je nach Schwere des Falls werde die Polizei benachrichtigt. Oft helfe aber auch eine Überweisung an den Sozialdienst oder zu der Mütter- und Väter-Beratung.